Jonnas Wohnung lag im Basisgeschoß von Camelot, in der Blauen Zone,
gleich neben der Ost-Schleuse. Es war eine Außenwohnung. Das bedeutete:
reichlich Platz, eigene Anschlüsse an das Versorgungssystem und keine
Nachbarn - niemand, der Zeter und Mordio schrie, weil Jonna so oft in
der Außenwelt war.
Gleich hinter der Wohnungstür stolperte sie über einen Putzer
- wieder einmal. Das Maschinchen zog eiligst all seine Staubfänger
ein, drehte sich hektisch ein paarmal um seine Achse und verschwand wie
ein geölter Blitz hinter einer der Wandplatten. Dort hatte er sein
Quartier, samt Ladestation und Absaug-Stutzen, und genau dort und nirgendwo
sonst hatte er sich gefälligst aufzuhalten, wenn Jonna zur Tür
hereinkam.
In der Wohnung hausten noch zehn weitere Putzer. Sie alle taten treu und
brav ihre Arbeit, ohne Jonna in die Quere zu kommen. Nur der im Vorraum
mußte immer wieder aus der Reihe tanzen. Sie hatte ihn schon ein
paarmal ausgetauscht - nichts half. Die Tür ließ ihm rechtzeitig
eine Warnung zukommen, daran lag es also nicht: Er hatte genug Zeit, sich
zurückzuziehen. Aber er tat es nicht.
Es schien, als sei dies eines jener Phänomene, mit denen man sich
eben abzufinden hatte. Und so blieb ihr auch heute nichts anderes übrig,
als sich den schmerzenden Knöchel zu reiben und den Putzer mit Verachtung
zu strafen.
Was dem blöden Ding natürlich völlig egal war. Er ließ
sich inzwischen genüßlich vom eingesammelten Staub befreien.
Jonna konnte das saugende Geräusch hinter der Wandplatte deutlich
hören.
Vielleicht ist er süchtig danach! dachte
sie sarkastisch. Wäre doch möglich! Er
will nicht aufhören zu sammeln, damit er hinterher länger
an seinem Saug-Stutzen hängen kann. Ein
saugsüchtiger Putzer - das muß ich Billy erzählen. Der
macht sicher einen tollen Witz daraus!
Sie wusch sich unter der Dusche den Geruch des Desinfektionsmittels herunter,
putzte sich dreimal hintereinander die Zähne und gurgelte ausgiebig
in allen möglichen Geschmacksrichtungen. Danach, endlich wieder in
eigener Kleidung, fühlte sie sich schon wesentlich besser, aber sie
wußte: sie war zu aufgedreht, um schlafen zu können. Darum
holte sie sich einen Becher Tee aus dem Automaten, ging damit ins Wohnzimmer
und setzte sich vor den Comco.
"Gib mir Billy!" sagte sie.
"Ihr Bruder ist im Moment nicht erreichbar."
"Warum nicht? Wo steckt er denn?"
"Er liegt in einem Saniscan. Er schläft. Der Saniscan empfiehlt
dringend, ihn jetzt nicht aufzuwecken."
Der Empfehlung eines Saniscans sollte man sich nicht widersetzen - es
sei denn, es gab zwingende Gründe. Jonnas Wunsch, sich von Billy
aufheitern zu lassen, gehörte sicher nicht in diese Kategorie. Das
war schade. Sie hätte ihm gerne von dem Putzer erzählt. Billy
hatte so eine herrlich skurrile Art, die Dinge zuerst auf den Kopf zu
stellen und dann auf den Punkt zu bringen.
Sie ließ sich das Zentralarchiv geben und übermittelte ihm
die Aufnahme von Ogawas Stadtplan. Das Archiv zeigte ihr das dazugehörige
Original. Darauf fehlte jedoch der nachträglich eingezeichnete Weg.
"Gibt es noch einen zweiten Stadtplan?" fragte Jonna nachdenklich.
"Einen mit Strich?"
Nein", erwiderte das Archiv.
"Bist du sicher?"
"Es wurde kein derartiger Stadtplan archiviert."
"Dann bleibt nur eine Erklärung übrig: Der Weg durch die
Ruinen wurde erst nachträglich eingezeichnet - als die Karte sich
bereits hier in der Stadt befand."
Das Archiv enthielt sich jeder Äußerung.
"Wahrscheinlich hat sich bloß jemand einen Jux gemacht",
überlegte Jonna. "Irgendein Spinner hat sich etwas zurechtphantasiert,
von einem Schatz oder etwas Ähnlichem. Und der arme Ogawa ist darauf
hereingefallen."
Aber eine innere Stimme sagte ihr, daß die Lösung des Rätsels
so einfach nicht war. Es steckte mit Sicherheit
mehr dahinter.
"Kannst du feststellen, wann und für wen der Ausdruck gemacht
wurde?" fragte sie.
"Die Aufnahme läßt solche Rückschlüsse nicht
zu", erklärte das Archiv. "Vielleicht finden sich auf der
Rückseite der Folie die nötigen Hinweise."
"Warte einen Augenblick."
Jonna nahm Verbindung mit Shangrilah-West auf und erkundigte sich nach
dem Verbleib der Karte.
"Das ganze Zeug ist noch in der Desinfektionskammer", erklärte
Maynard, der immer noch im Dienst war.
"Warum wurde es noch nicht weitergeleitet?" fragte Jonna verblüfft.
Maynard zuckte die Achseln: "Keine Ahnung."
Jonna ließ sich die Nummer der Kammer geben und teilte sie dem Archiv
mit. Die Antwort kam prompt:
"In dieser Kammer befindet sich keine Karte."
Jonna starrte ungläubig auf den Bildschirm.
"Moment!" sagte sie.
Sie ließ sich den Inhalt der Kammer auf dem Schirm zeigen. Es war
alles mögliche darin. Aber keine Waffe, kein Kompaß, keine
Karte.
Maynard - dieser verdammte Trottel!
Sie rief ihn an und sagte ihm, was er getan hatte:
"Sie haben den falschen Sack in die Desinfektionskammer gesteckt!"
"Nie im Leben!"
"Ich habe nachgesehen. In der Kammer ist ein Haufen Müll und
sonst nichts. Dieser Müll stammt aus dem großen
Sack. Die Sachen, die untersucht werden sollten, waren in dem kleinen
Beutel, den ich Ihnen gegeben habe!"
"Ich weiß. Ich habe ihn nicht aus der Hand gelegt. Ich bin
damit auf dem kürzesten Weg zu der Kammer gegangen und habe ihn persönlich
reingestellt. Den Sack mit dem Müll hatte ich nie in der Hand. Den
hat einer meiner Leute zum Recycling gegeben."
"Welcher Schacht?"
Maynard nannte die Nummer. Jonna sah nach.
"Er ist leer", stellte sie fest. "Der Inhalt wurde sofort
weitergeleitet. Es waren metallische Gegenstände dabei. Die Säcke
wurden vertauscht."
Maynard wirkte ehrlich betroffen.
"Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte!" sagte er.
Jonna verstand es noch viel weniger. Sie wußte
- wußte es jenseits jeden Zweifels - daß sie
die beiden Plastiksäcke nicht verwechselt
hatte. Aber Maynard schien sich seiner Sache genauso sicher zu sein. Die
Übergabe hatte draußen auf der Rampe stattgefunden, außerhalb
der Hauptschleuse von Shangrilah - es gab keinerlei Aufzeichnungen. Und
die Sensoren im Innern der Stadt bestätigten Maynards Version.
Das bedeutet, daß ich selbst die Säcke
durcheinandergebracht haben muß. Aber das habe
ich nicht!
"Noch irgendwelche Fragen?"
Das war Maynard.
"Nein", sagte Jonna und unterbrach die Verbindung.
Von Cheroux hatte sie gelernt, unlösbare Probleme beiseite zu schieben
und sich statt dessen auf die nächste Frage zu konzentrieren. Sie
wandte sich erneut an das Archiv mit der Bitte:
"Suche diesen einen Ausschnitt aus allen dir vorliegenden Karten
heraus und zeige mir die verschiedenen Versionen in chronologischer Reihenfolge."
Auf den frühesten Karten war das Gelände östlich des Portals
durchgehend bewaldet. Ein paar Wege unterbrachen das Grün, ein Bach
mit mehreren Zuflüssen, ein paar kleine Teiche - das war alles. Auf
der nächsten Karte war der Wald bereits zu einem beträchtlichen
Teil gerodet. Felder und Weiden waren an seine Stelle getreten. Noch eine
Karte später zog sich eine Straße durch die Felder. Häuser
waren entlang der Straße eingezeichnet.
Und dann rückte die Bebauung mit rasantem Tempo immer näher
an den Bach heran, zwang ihn in einen engen, geraden Lauf, überzog
ihn mit Brücken und ließ ihn schließlich völlig
unter der Erde verschwinden. Höchstwahrscheinlich hatte man ihn sogar
zugeschüttet. Aber offensichtlich war er in der einen oder anderen
Form immer noch vorhanden und drückte aus dem Untergrund nach oben:
Genau über ihm lag die Kreuzung mit der großen Pfütze,
aus der die Außenweltler ihr Wasser geschöpft hatten.
Nachdem man den Bach vollständig überbaut hatte, änderte
sich über einen Zeitraum von vielen Jahrzehnten hinweg kaum noch
etwas. Dann wurde die Straße verbreitert. Am östlichen Rand
tauchte das Portal auf, mit den ihm vorgelagerten Park- und Ladezonen.
Das war die letzte Karte. Wenig später hatte das Große Sterben
begonnen.
Hätte Ogawa seinen Kurs beibehalten, wäre er rund fünf
Kilometer weiter auf einen großen, runden Platz gelangt, von dem
fünf Straßen ausgingen. Zwei davon führten nach Osten.
Beide wichen jeweils um ein paar Grad nach Süden beziehungsweise
nach Norden ab. Eine Liste der Geschäfte, Firmen und Anwohner des
Platzes und aller fünf Straßen erbrachte keinerlei Anhaltspunkte.
Dort draußen schien es absolut nichts zu geben, das einen Stadtbewohner
reizen konnte.
Her mit der nächsten Sackgasse! dachte
Jonna deprimiert.
Jetzt war der Ausreißer persönlich an der Reihe.
Akira Ogawa hatte sich bis vor rund fünf Jahren als Quellentaucher
betätigt: er hatte in den Speichern der Archive nach Informationen
gesucht, die man zur Gestaltung virtueller Szenarien verwenden konnte.
Dann hatte er begonnen, die von ihm ausgegrabenen Daten in eigene Szenarien
umzusetzen.
Als Farm-Designer war er brauchbar, aber unauffällig - bis er eines
Tages auf einen uralten Bericht über singende Riesen-Regenwürmer
aus den Anden gestoßen war. Er hatte alle verfügbaren Informationen
über die Tiere zusammengetragen und eines der klassischen Komposthaufen-Szenarien
um seine speziellen Lieblinge bereichert.
Das Ganze war ein voller Erfolg. Die Würmer wurden über einen
Meter lang, arbeiteten viel schneller und effektiver als die herkömmlichen
Arten und gaben tatsächlich Töne von sich. Ogawa erhielt eine
Auszeichnung.
So weit, so gut. Aber leider hatte Ogawa den von Natur aus ziemlich eintönigen
"Gesang" der Würmer ein wenig verbessert und das Ganze
auf die Formel gebracht: je größer der Haufen, desto mehr Würmer
und desto komplexer der Chor. Das Ergebnis war verblüffend: die Farmer
hatten sich kaum noch von ihren tönenden Komposthaufen trennen können.
Zu allem Überfluß verbreitete sich im Handumdrehen das Gerücht,
der endgültige Chor von einhundert Würmern sei von schier unwiderstehlichem
Reiz.
Woraufhin viele Farmer dazu übergingen, ausschließlich für
die Vergrößerung der singenden Haufen zu arbeiten. Obst, Gemüse,
Kräuter, Heu und Stroh, am Ende sogar das Saatgut, das virtuelle
- alles wanderte auf den Kompost.
Und die Würmer gaben ganze Konzerte zum besten. Gab man ihnen Klee,
dann sangen sie im Stil irischer Folklore, nach Bananen wurde es afrikanisch,
und wenn sie Zwiebeln bekamen, intonierten sie japanische Rikschatrommeln
und manchmal sogar Beethoven samt Paukenschlag. Die Farmer lauschten verzückt.
Ein mißgünstiger Designer rief im Rat
zur Bildung einer Anti-Wurm-Fraktion auf und erhob die Forderung, man
solle die singenden Riesen zum Schlachten freigeben - fast hätte
man den Mann gelyncht.
Und das war der Anfang vom Ende.
Natürlich war es im Grunde genommen völlig egal, was sich auf
den virtuellen Computer-Farmen
tummelte: Die Farmen waren - nüchtern gesehen - sowieso nur ein Spiel,
reine Beschäftigungstherapie. Es gab dort noch viele andere virtuelle
Wesen, die nicht unbedingt der landwirtschaftlichen Realität entsprachen.
Da wuchsen z.B. viereckige Tomaten heran, und virtuelle Hühner legten
die dazu passenden viereckigen Eier. Eine Erdnußbutter-Sandwich-Pflanze
ließ ihre "Früchte" im Boden heranreifen, mit einer
Hülle drumrum, die man knacken konnte. Von virtuellen Ahornbäume
regnete es zuckersüße Nüsse. Es gab Blaubeermelonen, Schinkenwurzeln,
Raviolisträucher und Schweine, denen die bratfertigen Würste
hinten rausquollen (natürlich aus einer Extra-Öffnung, einer
virtuellen, das versteht sich ja wohl von selbst!). Die singenden Würmer
konnten in diesem Panoptikum wahrhaftig keinen Schaden mehr anrichten.
Aber bei der Nachbarschaftshilfe sah man das anders. Die Würmer -
so sagte man - gehörten nicht auf die Farmen und störten den
sozialen Frieden. Sie mußten weg und damit basta. Der Protest der
Wurm-Freunde verhallte ungehört: Die Daten der singenden Riesen wurden
erbarmungslos aus sämtlichen Kompost-Szenarien gelöscht. Akira
Ogawa wurde mit Schimpf und Schande aus der ehrbaren Zunft der Farm-Designer
ausgeschlossen.
Daraufhin hatte er sich als Perlenspieler versucht.
Glasperlen waren eine der großen Leidenschaften der Bürger
von Elcit. Die erste, älteste und immer noch berühmteste Glasperle
aller Zeiten hieß "Bach auf Mandelbrot", und ein Bürger
namens DoceDan hatte sie geschrieben - sehr früh, schon kurz nach
der Gründung der Stadt.
Er hatte
eine Komposition von Johann Sebastian Bach in Zahlen übertragen.
Dann hatte er dasselbe mit einer Filmsequenz getan - sinnigerweise kam
ein Bach darin vor. Und dann hatte er diese beiden Faktoren mit Hilfe
der fraktalen Geometrie (begründet von dem Wissenschaftler Benoit
Mandelbrot, daher der Name der Perle) so gründlich miteinander vermischt,
verzwirbelt und verflochten, daß etwas völlig Unerwartetes
dabei herauskam. Es ließ sich weder erklären noch beschreiben
- man mußte es sehen und hören. Es war umwerfend, unglaublich,
geradezu hypnotisch.
DoceDans Lebensgefährte war ein begeisterter Fan von Hermann Hesse.
Der Roman "Das Glasperlenspiel" hatte es ihm besonders angetan.
In dieser Geschichte ging es um die Verflechtung von Kunst und Wissenschaft
- also um genau das, was DoceDan mit "Bach auf Mandelbrot" getan
hatte. Und so nannten die beiden die Erzeugnisse dieser neuen Kunstform
"Glasperlen".
Die Menschen in der Außenwelt, vor der Großen Katastrophe,
waren ganz versessen auf die "Perlen" aus Elcit. Das hatte dem
Selbstbewußtsein der Bürger sehr gut getan. Die Perlen wurden
zu einem regelrechten Exportschlager - sie waren die einzige "Ware",
die die Stadt je verlassen hatte.
Akira Ogawa war auch als Glasperlenspieler zunächst nicht sonderlich
erfolgreich, aber vor knapp drei Monaten hatte er einen durchschlagenden
Erfolg erzielt. Irgendwie schien es jedoch, als hätte dieser arme
Kerl das Pech für sich gepachtet - die Nachbarschaftshilfe hatte
seine Werke verboten.
Die Begründung für dieses Verbot war außerordentlich seltsam.
Sie lautete, Ogawa habe in seinen Glasperlen die Außenwelt verherrlicht
und die Gefahren dermaßen verharmlost, daß es schon an fahrlässige
Tötung grenzte. Ogawas Perlen sollten bei den Betrachtern Aversionen
gegen das Leben in der Stadt erzeugen und Sehnsüchte wecken, die
für die Bürger tödlich waren.
Jonna glaubte davon kein Wort. Wahrscheinlich war der ganze Ärger
nur darauf zurückzuführen, daß im Perlenrat von Mittelerde
jemand saß, der dem armen Ogawa die Sache mit den singenden Würmern
nicht verzeihen konnte.
Sie faltete die Hände im Nacken, lehnte sich zurück und dachte
darüber nach, ob sie sich eine der Perlen ansehen sollte (wozu sie
eigentlich keine Lust hatte), da meldete der Comco ein Gespräch.
Sie dachte nichts anderes, als daß Cheroux sich nach dem Verlauf
der Rückholaktion erkundigen wollte. Darum nahm sie das Gespräch
an, ohne sich vorher zu vergewissern, wer am anderen Ende war.
Und das war ein Fehler.
Denn es war nicht der Observer.
Es war Myskiallen.
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