Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 7:
Akira Ogawa
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Jonnas Wohnung lag im Basisgeschoß von Camelot, in der Blauen Zone, gleich neben der Ost-Schleuse. Es war eine Außenwohnung. Das bedeutete: reichlich Platz, eigene Anschlüsse an das Versorgungssystem und keine Nachbarn - niemand, der Zeter und Mordio schrie, weil Jonna so oft in der Außenwelt war.

Gleich hinter der Wohnungstür stolperte sie über einen Putzer - wieder einmal. Das Maschinchen zog eiligst all seine Staubfänger ein, drehte sich hektisch ein paarmal um seine Achse und verschwand wie ein geölter Blitz hinter einer der Wandplatten. Dort hatte er sein Quartier, samt Ladestation und Absaug-Stutzen, und genau dort und nirgendwo sonst hatte er sich gefälligst aufzuhalten, wenn Jonna zur Tür hereinkam.

In der Wohnung hausten noch zehn weitere Putzer. Sie alle taten treu und brav ihre Arbeit, ohne Jonna in die Quere zu kommen. Nur der im Vorraum mußte immer wieder aus der Reihe tanzen. Sie hatte ihn schon ein paarmal ausgetauscht - nichts half. Die Tür ließ ihm rechtzeitig eine Warnung zukommen, daran lag es also nicht: Er hatte genug Zeit, sich zurückzuziehen. Aber er tat es nicht.

Es schien, als sei dies eines jener Phänomene, mit denen man sich eben abzufinden hatte. Und so blieb ihr auch heute nichts anderes übrig, als sich den schmerzenden Knöchel zu reiben und den Putzer mit Verachtung zu strafen.

Was dem blöden Ding natürlich völlig egal war. Er ließ sich inzwischen genüßlich vom eingesammelten Staub befreien. Jonna konnte das saugende Geräusch hinter der Wandplatte deutlich hören.

Vielleicht ist er süchtig danach! dachte sie sarkastisch. Wäre doch möglich! Er will nicht aufhören zu sammeln, damit er hinterher
länger an seinem Saug-Stutzen hängen kann. Ein saugsüchtiger Putzer - das muß ich Billy erzählen. Der macht sicher einen tollen Witz daraus!

Sie wusch sich unter der Dusche den Geruch des Desinfektionsmittels herunter, putzte sich dreimal hintereinander die Zähne und gurgelte ausgiebig in allen möglichen Geschmacksrichtungen. Danach, endlich wieder in eigener Kleidung, fühlte sie sich schon wesentlich besser, aber sie wußte: sie war zu aufgedreht, um schlafen zu können. Darum holte sie sich einen Becher Tee aus dem Automaten, ging damit ins Wohnzimmer und setzte sich vor den Comco.

"Gib mir Billy!" sagte sie.

"Ihr Bruder ist im Moment nicht erreichbar."

"Warum nicht? Wo steckt er denn?"

"Er liegt in einem Saniscan. Er schläft. Der Saniscan empfiehlt dringend, ihn jetzt nicht aufzuwecken."


Der Empfehlung eines Saniscans sollte man sich nicht widersetzen - es sei denn, es gab zwingende Gründe. Jonnas Wunsch, sich von Billy aufheitern zu lassen, gehörte sicher nicht in diese Kategorie. Das war schade. Sie hätte ihm gerne von dem Putzer erzählt. Billy hatte so eine herrlich skurrile Art, die Dinge zuerst auf den Kopf zu stellen und dann auf den Punkt zu bringen.

Sie ließ sich das Zentralarchiv geben und übermittelte ihm die Aufnahme von Ogawas Stadtplan. Das Archiv zeigte ihr das dazugehörige Original. Darauf fehlte jedoch der nachträglich eingezeichnete Weg.

"Gibt es noch einen zweiten Stadtplan?" fragte Jonna nachdenklich. "Einen mit Strich?"

“Nein", erwiderte das Archiv.

"Bist du sicher?"

"Es wurde kein derartiger Stadtplan archiviert."

"Dann bleibt nur eine Erklärung übrig: Der Weg durch die Ruinen wurde erst nachträglich eingezeichnet - als die Karte sich bereits hier in der Stadt befand."

Das Archiv enthielt sich jeder Äußerung.

"Wahrscheinlich hat sich bloß jemand einen Jux gemacht", überlegte Jonna. "Irgendein Spinner hat sich etwas zurechtphantasiert, von einem Schatz oder etwas Ähnlichem. Und der arme Ogawa ist darauf hereingefallen."

Aber eine innere Stimme sagte ihr, daß die Lösung des Rätsels so einfach nicht war. Es steckte mit Sicherheit mehr dahinter.

"Kannst du feststellen, wann und für wen der Ausdruck gemacht wurde?" fragte sie.

"Die Aufnahme läßt solche Rückschlüsse nicht zu", erklärte das Archiv. "Vielleicht finden sich auf der Rückseite der Folie die nötigen Hinweise."

"Warte einen Augenblick."

Jonna nahm Verbindung mit Shangrilah-West auf und erkundigte sich nach dem Verbleib der Karte.

"Das ganze Zeug ist noch in der Desinfektionskammer", erklärte Maynard, der immer noch im Dienst war.

"Warum wurde es noch nicht weitergeleitet?" fragte Jonna verblüfft.

Maynard zuckte die Achseln: "Keine Ahnung."

Jonna ließ sich die Nummer der Kammer geben und teilte sie dem Archiv mit. Die Antwort kam prompt:

"In dieser Kammer befindet sich keine Karte."

Jonna starrte ungläubig auf den Bildschirm.

"Moment!" sagte sie.

Sie ließ sich den Inhalt der Kammer auf dem Schirm zeigen. Es war alles mögliche darin. Aber keine Waffe, kein Kompaß, keine Karte.

Maynard - dieser verdammte Trottel!

Sie rief ihn an und sagte ihm, was er getan hatte:

"Sie haben den falschen Sack in die Desinfektionskammer gesteckt!"

"Nie im Leben!"

"Ich habe nachgesehen. In der Kammer ist ein Haufen Müll und sonst nichts. Dieser Müll stammt aus dem großen Sack. Die Sachen, die untersucht werden sollten, waren in dem kleinen Beutel, den ich Ihnen gegeben habe!"

"Ich weiß. Ich habe ihn nicht aus der Hand gelegt. Ich bin damit auf dem kürzesten Weg zu der Kammer gegangen und habe ihn persönlich reingestellt. Den Sack mit dem Müll hatte ich nie in der Hand. Den hat einer meiner Leute zum Recycling gegeben."

"Welcher Schacht?"

Maynard nannte die Nummer. Jonna sah nach.

"Er ist leer", stellte sie fest. "Der Inhalt wurde sofort weitergeleitet. Es waren metallische Gegenstände dabei. Die Säcke wurden vertauscht."

Maynard wirkte ehrlich betroffen.

"Ich verstehe nicht, wie das passieren konnte!" sagte er.

Jonna verstand es noch viel weniger. Sie wußte - wußte es jenseits jeden Zweifels - daß sie die beiden Plastiksäcke nicht verwechselt hatte. Aber Maynard schien sich seiner Sache genauso sicher zu sein. Die Übergabe hatte draußen auf der Rampe stattgefunden, außerhalb der Hauptschleuse von Shangrilah - es gab keinerlei Aufzeichnungen. Und die Sensoren im Innern der Stadt bestätigten Maynards Version.

Das bedeutet, daß ich selbst die Säcke durcheinandergebracht haben muß. Aber das habe ich nicht!

"Noch irgendwelche Fragen?"

Das war Maynard.

"Nein", sagte Jonna und unterbrach die Verbindung.

Von Cheroux hatte sie gelernt, unlösbare Probleme beiseite zu schieben und sich statt dessen auf die nächste Frage zu konzentrieren. Sie wandte sich erneut an das Archiv mit der Bitte:

"Suche diesen einen Ausschnitt aus allen dir vorliegenden Karten heraus und zeige mir die verschiedenen Versionen in chronologischer Reihenfolge."

Auf den frühesten Karten war das Gelände östlich des Portals durchgehend bewaldet. Ein paar Wege unterbrachen das Grün, ein Bach mit mehreren Zuflüssen, ein paar kleine Teiche - das war alles. Auf der nächsten Karte war der Wald bereits zu einem beträchtlichen Teil gerodet. Felder und Weiden waren an seine Stelle getreten. Noch eine Karte später zog sich eine Straße durch die Felder. Häuser waren entlang der Straße eingezeichnet.

Und dann rückte die Bebauung mit rasantem Tempo immer näher an den Bach heran, zwang ihn in einen engen, geraden Lauf, überzog ihn mit Brücken und ließ ihn schließlich völlig unter der Erde verschwinden. Höchstwahrscheinlich hatte man ihn sogar zugeschüttet. Aber offensichtlich war er in der einen oder anderen Form immer noch vorhanden und drückte aus dem Untergrund nach oben: Genau über ihm lag die Kreuzung mit der großen Pfütze, aus der die Außenweltler ihr Wasser geschöpft hatten.

Nachdem man den Bach vollständig überbaut hatte, änderte sich über einen Zeitraum von vielen Jahrzehnten hinweg kaum noch etwas. Dann wurde die Straße verbreitert. Am östlichen Rand tauchte das Portal auf, mit den ihm vorgelagerten Park- und Ladezonen.

Das war die letzte Karte. Wenig später hatte das Große Sterben begonnen.

Hätte Ogawa seinen Kurs beibehalten, wäre er rund fünf Kilometer weiter auf einen großen, runden Platz gelangt, von dem fünf Straßen ausgingen. Zwei davon führten nach Osten. Beide wichen jeweils um ein paar Grad nach Süden beziehungsweise nach Norden ab. Eine Liste der Geschäfte, Firmen und Anwohner des Platzes und aller fünf Straßen erbrachte keinerlei Anhaltspunkte. Dort draußen schien es absolut nichts zu geben, das einen Stadtbewohner reizen konnte.

Her mit der nächsten Sackgasse! dachte Jonna deprimiert.

Jetzt war der Ausreißer persönlich an der Reihe.

Akira Ogawa hatte sich bis vor rund fünf Jahren als Quellentaucher betätigt: er hatte in den Speichern der Archive nach Informationen gesucht, die man zur Gestaltung virtueller Szenarien verwenden konnte. Dann hatte er begonnen, die von ihm ausgegrabenen Daten in eigene Szenarien umzusetzen.

Als Farm-Designer war er brauchbar, aber unauffällig - bis er eines Tages auf einen uralten Bericht über singende Riesen-Regenwürmer aus den Anden gestoßen war. Er hatte alle verfügbaren Informationen über die Tiere zusammengetragen und eines der klassischen Komposthaufen-Szenarien um seine speziellen Lieblinge bereichert.

Das Ganze war ein voller Erfolg. Die Würmer wurden über einen Meter lang, arbeiteten viel schneller und effektiver als die herkömmlichen Arten und gaben tatsächlich Töne von sich. Ogawa erhielt eine Auszeichnung.

So weit, so gut. Aber leider hatte Ogawa den von Natur aus ziemlich eintönigen "Gesang" der Würmer ein wenig verbessert und das Ganze auf die Formel gebracht: je größer der Haufen, desto mehr Würmer und desto komplexer der Chor. Das Ergebnis war verblüffend: die Farmer hatten sich kaum noch von ihren tönenden Komposthaufen trennen können. Zu allem Überfluß verbreitete sich im Handumdrehen das Gerücht, der endgültige Chor von einhundert Würmern sei von schier unwiderstehlichem Reiz.

Woraufhin viele Farmer dazu übergingen, ausschließlich für die Vergrößerung der singenden Haufen zu arbeiten. Obst, Gemüse, Kräuter, Heu und Stroh, am Ende sogar das Saatgut, das virtuelle - alles wanderte auf den Kompost.

Und die Würmer gaben ganze Konzerte zum besten. Gab man ihnen Klee, dann sangen sie im Stil irischer Folklore, nach Bananen wurde es afrikanisch, und wenn sie Zwiebeln bekamen, intonierten sie japanische Rikschatrommeln und manchmal sogar Beethoven samt Paukenschlag. Die Farmer lauschten verzückt. Ein mißgünstiger Designer rief im Rat zur Bildung einer Anti-Wurm-Fraktion auf und erhob die Forderung, man solle die singenden Riesen zum Schlachten freigeben - fast hätte man den Mann gelyncht.

Und das war der Anfang vom Ende.

Natürlich war es im Grunde genommen völlig egal, was sich auf den virtuellen Computer-Farmen tummelte: Die Farmen waren - nüchtern gesehen - sowieso nur ein Spiel, reine Beschäftigungstherapie. Es gab dort noch viele andere virtuelle Wesen, die nicht unbedingt der landwirtschaftlichen Realität entsprachen. Da wuchsen z.B. viereckige Tomaten heran, und virtuelle Hühner legten die dazu passenden viereckigen Eier. Eine Erdnußbutter-Sandwich-Pflanze ließ ihre "Früchte" im Boden heranreifen, mit einer Hülle drumrum, die man knacken konnte. Von virtuellen Ahornbäume regnete es zuckersüße Nüsse. Es gab Blaubeermelonen, Schinkenwurzeln, Raviolisträucher und Schweine, denen die bratfertigen Würste hinten rausquollen (natürlich aus einer Extra-Öffnung, einer virtuellen, das versteht sich ja wohl von selbst!). Die singenden Würmer konnten in diesem Panoptikum wahrhaftig keinen Schaden mehr anrichten.

Aber bei der Nachbarschaftshilfe sah man das anders. Die Würmer - so sagte man - gehörten nicht auf die Farmen und störten den sozialen Frieden. Sie mußten weg und damit basta. Der Protest der Wurm-Freunde verhallte ungehört: Die Daten der singenden Riesen wurden erbarmungslos aus sämtlichen Kompost-Szenarien gelöscht. Akira Ogawa wurde mit Schimpf und Schande aus der ehrbaren Zunft der Farm-Designer ausgeschlossen.

Daraufhin hatte er sich als Perlenspieler versucht.

Glasperlen waren eine der großen Leidenschaften der Bürger von Elcit. Die erste, älteste und immer noch berühmteste Glasperle aller Zeiten hieß "Bach auf Mandelbrot", und ein Bürger namens DoceDan hatte sie geschrieben - sehr früh, schon kurz nach der Gründung der Stadt.
Er hatte eine Komposition von Johann Sebastian Bach in Zahlen übertragen. Dann hatte er dasselbe mit einer Filmsequenz getan - sinnigerweise kam ein Bach darin vor. Und dann hatte er diese beiden Faktoren mit Hilfe der fraktalen Geometrie (begründet von dem Wissenschaftler Benoit Mandelbrot, daher der Name der Perle) so gründlich miteinander vermischt, verzwirbelt und verflochten, daß etwas völlig Unerwartetes dabei herauskam. Es ließ sich weder erklären noch beschreiben - man mußte es sehen und hören. Es war umwerfend, unglaublich, geradezu hypnotisch.

DoceDans Lebensgefährte war ein begeisterter Fan von Hermann Hesse. Der Roman "Das Glasperlenspiel" hatte es ihm besonders angetan. In dieser Geschichte ging es um die Verflechtung von Kunst und Wissenschaft - also um genau das, was DoceDan mit "Bach auf Mandelbrot" getan hatte. Und so nannten die beiden die Erzeugnisse dieser neuen Kunstform "Glasperlen".

Die Menschen in der Außenwelt, vor der Großen Katastrophe, waren ganz versessen auf die "Perlen" aus Elcit. Das hatte dem Selbstbewußtsein der Bürger sehr gut getan. Die Perlen wurden zu einem regelrechten Exportschlager - sie waren die einzige "Ware", die die Stadt je verlassen hatte.

Akira Ogawa war auch als Glasperlenspieler zunächst nicht sonderlich erfolgreich, aber vor knapp drei Monaten hatte er einen durchschlagenden Erfolg erzielt. Irgendwie schien es jedoch, als hätte dieser arme Kerl das Pech für sich gepachtet - die Nachbarschaftshilfe hatte seine Werke verboten.

Die Begründung für dieses Verbot war außerordentlich seltsam. Sie lautete, Ogawa habe in seinen Glasperlen die Außenwelt verherrlicht und die Gefahren dermaßen verharmlost, daß es schon an fahrlässige Tötung grenzte. Ogawas Perlen sollten bei den Betrachtern Aversionen gegen das Leben in der Stadt erzeugen und Sehnsüchte wecken, die für die Bürger tödlich waren.

Jonna glaubte davon kein Wort. Wahrscheinlich war der ganze Ärger nur darauf zurückzuführen, daß im Perlenrat von Mittelerde jemand saß, der dem armen Ogawa die Sache mit den singenden Würmern nicht verzeihen konnte.

Sie faltete die Hände im Nacken, lehnte sich zurück und dachte darüber nach, ob sie sich eine der Perlen ansehen sollte (wozu sie eigentlich keine Lust hatte), da meldete der Comco ein Gespräch. Sie dachte nichts anderes, als daß Cheroux sich nach dem Verlauf der Rückholaktion erkundigen wollte. Darum nahm sie das Gespräch an, ohne sich vorher zu vergewissern, wer am anderen Ende war.

Und das war ein Fehler.

Denn es war nicht der Observer.

Es war Myskiallen.


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