Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 6:
Carelli
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Die Aussicht von der Rampe aus war atemberaubend. Prächtige rotgoldene Wolken standen am Himmel, in breit gefächerten Bahnen, wie das Gefieder eines riesigen Vogels, leuchtend vor einem in Blaßblau und Meergrün verschwimmenden Hintergrund, darunter ein flammend roter Horizont, gegen den sich die westlich gelegenen Pyramiden als schwarze Dreiecke abzeichneten - Avalon, Camelot und Lemuria, dahinter, etwas versetzt, Lothlorien und Mu, die unbewohnt geblieben war.

Maynard schien von dieser Pracht nichts mitzukriegen. Er hatte nur Augen für den Transporter.

"Sie sind spät dran!" bemerkte er. Dabei wanderte er um das Solarmobil herum und musterte es mißtrauisch von allen Seiten. Er trug eine dunkle Brille, um sich vor dem Licht der untergehenden Sonne zu schützen. Eine weiße Cremeschicht bedeckte sein Gesicht.

Er war unvorsichtigerweise herausgekommen, um sich zu vergewissern, daß Jonna den kostbaren Transporter nicht verbeult hatte. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als zu bleiben und die heikle Fracht in Empfang zu nehmen.

"Das System hat inzwischen rausgekriegt, wer Ihr Ausreißer ist", sagte er. "Er heißt Akira Ogawa. Er hat in Mittelerde gewohnt. Ich möchte bloß mal wissen, warum er sich den weiten Weg gemacht und zu uns rübergekommen ist. Um Selbstmord zu begehen? Wenn es nur das war - wieso hat er's nicht lieber auf die übliche Weise getan, in aller Ruhe, in einem Saniscan, mit der Begrüßung der Seligen und dem ganzen Drum und Dran?"

Mittelerde, am entgegengesetzten Ende von Elcit, wo die alte Stadt bis an die Schleusen heranreichte...

Jonna dachte an den Kompaß und an den Stadtplan. Dieser Ausreißer, das wußte sie jetzt schon, würde ihr noch viel Kopfzerbrechen bereiten.

Sie ging um den Transporter herum und öffnete die Klappe zum Laderaum.

"Sie hätten ihn draußen lassen sollen!" brummte Maynard mißmutig, als er das schwarze Paket entdeckte.

"Er hat unser Essen gegessen und unser Wasser getrunken", sagte Jonna achselzuckend. "Er muß in den Recycling-Kreislauf zurückkehren."

"Und die verdammten Viecher?"

"Die haben sich von ihm ernährt. Sie sind jetzt ein Teil von ihm."

"Das ist ekelhaft!"

"Da stimme ich Ihnen zu. Aber Gesetz ist Gesetz. Keine Angst - die Tiere können nicht heraus."

Und das durften sie auch auf gar keinen Fall. Es befanden sich nicht nur Maden in dem Paket - es waren auch Fliegen dabei. Unterwegs hatte Jonna sie hören können, wie sie unter der Folie herumbrummten, verzweifelt auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser schwarzen Todesfalle.

Der Gedanke an das Drama, das sich unter der Plastikhülle abspielte, fraß an Jonnas Seele. Man hatte sie von frühester Kindheit an gelehrt, das Leben zu achten - jede Art von Leben - und sie hatte dieses Gebot in einem so hohen Maße verinnerlicht, daß sie einfach nicht imstande war, die kleinen Aasfresser als "Ungeziefer" abzutun. Sie mußten essen, um zu leben, wie alle anderen Geschöpfe auch. Man konnte ihnen keinen Vorwurf daraus machen, daß sie einen menschlichen Kadaver genauso behandelten, wie sie es mit einer toten Ratte taten.

Jonna hätte es vorgezogen, sie von der Leiche zu entfernen. Sollten sie ihr kleines Leben in Ruhe und Freiheit beenden - sie hatten ein Recht darauf. Es war nicht richtig, sie in einen so grausamen und nutzlosen Tod zu schicken und sie dabei zu allem Überfluß aus der ohnehin noch immer erschreckend zerbrechlichen Nahrungskette der Außenwelt zu entfernen.

Aber es war ihr nicht möglich gewesen, sie alle zu verjagen. Das daraus resultierende Gefühl der Schuld machte sie reizbar.

"Rufen Sie endlich Ihre Leute!" befahl sie ungeduldig. "Ich möchte das hier hinter mich bringen!"

Und natürlich wollte sie unter die Dusche und in den Saniscan. Sie stank nach dem Deodorant, mit dem sie sich und die Leiche besprüht hatte, um wenigstens einen Teil der Fliegen zu verscheuchen. Außerdem hatte der Schutzanzug nicht bis zum Ende der Prozedur gehalten. Einige Fliegen waren durch die Risse ins Innere des Anzugs gelangt. Jonna hatte sie in ihrem Haar gespürt, und sie glaubte, gefühlt zu haben, wie sich etwas in ihre Kopfhaut hineinbohrte. Das hatte eine psychosomatische Reaktion bei ihr ausgelöst. Es kribbelte und krabbelte sie am ganzen Leibe. Sie wünschte sich eine große Dosis Calcium und einen Ort, an dem sie sich in aller Ruhe kratzen konnte, ohne daß jemand Alarm schlug.

Maynard winkte zur Schleuse hinüber. Ein paar seiner Leute kamen heraus. Sie trugen Schutzanzüge mit dicken Handschuhen und durchsichtigen Helmen. Sie ekelten sich so sehr vor dem Inhalt des Bündels, daß sie nur die äußersten Zipfel der Folie zu fassen wagten. Zu viert transportierten sie Akira Ogawa durch die Schleuse. Ein fünfter Außendienstler trug mit spitzen Fingern den Plastiksack mit den restlichen Mitbringseln hinterdrein.

"Lassen Sie das alles hier gesondert durch eine Desinfektionskammer laufen", sagte Jonna zu Maynard und reichte ihm den anderen Beutel, der die Waffe, den Kompaß, den Stadtplan und ein paar andere Dinge enthielt, die sie für spätere Untersuchungen aufbewahrt wissen wollte. "Diese Sachen werden noch gebraucht!"

"Ich werde es weiterleiten", versprach Maynard mit deutlichem Widerwillen. "Wissen Sie schon, warum er es getan hat?"

Jonna schüttelte schweigend den Kopf.

"Ich dachte, Sie hätten vielleicht einen Hinweis gefunden."

"Da draußen?" fragte Jonna sarkastisch.

"Er muß völlig verrückt gewesen sein", vermutete Maynard.

Jonna hatte nicht die geringste Lust, dieses Thema hier und jetzt zu erörtern. Sie begann statt dessen den Laderaum nach ungebetenen Gästen abzusuchen. Akira Ogawa war nicht mehr besonders gut beieinander gewesen, und obwohl Jonna ihn draußen verpackt hatte, gut zwanzig Meter vom Wagen entfernt, konnte leicht etwas danebengegangen sein. Für die großen grauen Fliegen waren solche Überreste von geradezu magischer Anziehungskraft.

"Der Name", sagte Maynard, der immer noch neben dem Wagen stand. "Ich kann ihn im Moment nicht unterbringen, aber ich bin mir absolut sicher, daß ich ihn schon gehört habe. Sie nicht auch?"

"Nein", erwiderte Jonna einsilbig.

Sie beendete ihre Inspektion und schloß die Luke. Sie drehte sich um und sah, daß Maynard sie unentwegt beobachtete.

"Hören Sie zu", sagte sie ärgerlich. "Ich weiß nichts über diesen Ogawa. Fragen Sie doch einfach in der Zentrale nach!"

Maynard zuckte beleidigt die Achseln und zog sich zurück.

Jonna fuhr den Transporter in eine der Wartungsschleusen. Sie überließ den Wagen der Automatik, warf alles, was sie am Leibe trug, in eine Desinfektionskammer, ging unter die Dusche und legte sich anschließend in den Saniscan.

Der Sani entfernte ein paar hundert Fliegeneier und einige frisch geschlüpfte Maden. Drei waren bereits unter die Kopfhaut gegangen - nur drei! Jonna hätte wetten mögen, daß es mehr waren.

Sauber geschrubbt und mit frischer Kleidung versehen (Standardzeug aus dem Automaten) wollte sie gerade die Schleuse verlassen, als hinter ihr ein lautes Summen erklang. Unschlüssig blieb sie an der Tür stehen, die Hand an der Klinke.

Sie hätte den Anruf am liebsten ignoriert. Sie war entsetzlich müde, und sie hatte Durst. In ihrem Mund hielt sich hartnäckig der metallische Nachgeschmack des Desinfektionsmittels, mit dem sie pflichtschuldigst gegurgelt hatte, und sie kriegte den verdammten Leichengeruch nicht aus der Nase. Es zog sie nach Hause, in ihr eigenes Bad und zu ihrem Küchenautomaten. Aber das Summen hörte einfach nicht auf.

Es war Maynard. Der Schleusenmeister hatte die dunkle Brille abgenommen, die dicke, weiße Cremeschicht aber noch nicht entfernt. Er sah aus wie ein schlampig geschminktes Monster aus einem alten Schwarzweißfilm.

"Ich wußte doch, daß ich den Namen kenne!" sagte er, sichtlich zufrieden mit sich und seinem Gedächtnis. "Ihr Kunde war ein berühmter Mann, ein Perlenspieler. Haben Sie wirklich noch nie was von Akira Ogawa gehört?"

Jonna schüttelte wortlos den Kopf.

"Das ist merkwürdig. Man spricht doch schon in der ganzen Stadt von ihm!"

"Ich habe wenig Zeit für solche Dinge", bemerkte Jonna.

"Ein bißchen Freizeit braucht jeder, und eine gute Perle bringt einen für eine Weile auf andere Gedanken. Das hat noch keinem geschadet!"

"Haben Sie mich angerufen, um mir einen Vortrag über die therapeutische Wirkung von Glasperlen zu halten?" fragte Jonna gereizt.

"Natürlich nicht!" versicherte Maynard hastig. "Ich habe jemanden von der Comp-Animation am Apparat. Die wollen aus der Beisetzung eine ganz große Sache machen. Aber ich kann denen doch nicht einfach die Leiche aushändigen! Was soll ich tun?"

Eine interessante Frage.

Natürlich konnte man Akira Ogawa öffentlich beisetzen, aber in der üblichen Weise aufbahren konnte man ihn nicht. Wenn überhaupt, dann mußte man ihn der Trauergemeinde als geschlossenes Paket präsentieren, in schwarze Folie gewickelt, wie Jonna ihn hereingebracht hatte. Es war nicht schwer vorauszusehen, daß die Leute von der Comp-Animation sich damit nicht zufriedengeben würden. Wahrscheinlich würden sie klammheimlich die Folie öffnen, um sich mit eigenen Augen vom Zustand der Leiche zu überzeugen. Nicht auszudenken, was dabei alles passieren konnte!

"Geben Sie mir den Knaben mal rüber!" sagte Jonna seufzend.

Auf dem Schirm erschien ein auf jugendlich getrimmter Endvierziger, der sich umgehend anschickte, eine salbungsvolle Rede vom Stapel zu lassen. Jonna kam ihm zuvor, indem sie sagte:

"Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Stellen Sie bei der Trauerfeier ein Bild des Verstorbenen auf und lassen Sie es damit gut sein. Das ist das Beste für alle Beteiligten."

"So geht das aber nicht!" protestierte Carelli sofort - sein Name war am unteren Bildrand eingeblendet. "Der Mann war ein Künstler! Er war sehr berühmt!"

"Für mich zählt nicht, was er war, sondern nur, was er jetzt noch ist. Und so leid es mir tut: Er ist nicht präsentabel."

"Seine Anhänger werden wissen wollen, was mit ihm passiert ist!"

"Dazu wird es eine offizielle Verlautbarung geben."

"Das reicht mir aber nicht! Dieser Mann wurde von vielen Leuten regelrecht angebetet. Sie wissen doch, wie das in solchen Fällen ist! Wenn wir Ogawas Fans nicht von Anfang an reinen Wein einschenken, werden bald die wildesten Gerüchte im Umlauf sein. Am Ende heißt es vielleicht sogar, daß Sie ihn umgebracht haben!"

Das würde man auf jeden Fall sagen. Die Protektoren waren als Sündenböcke sehr beliebt.

"Liefern Sie uns die Leiche", fuhr Carelli fort, "und lassen Sie mich und meine Leute darüber entscheiden, in welcher Form wir Akira Ogawa der Öffentlichkeit präsentieren werden!"

"Bevor Sie weiterreden", sagte Jonna, "sollten Sie sich ansehen, worauf Sie sich einzulassen gedenken. Dabei sollten Sie unbedingt die Tatsache berücksichtigen, daß dies keine Trickaufnahmen sind! Alles, was Sie jetzt zu sehen bekommen, ist echt, und eines garantiere ich Ihnen: Allein schon der Geruch würde Ihren Trauergästen den Magen umdrehen!"

Sie zeigte Carelli einige der Aufnahmen.

Der Mann von der Comp-Animation besah sich die ganze Bescherung mit bemerkenswerter Gelassenheit. Entweder hatte er Jonnas Warnung gar nicht begriffen, oder er war durch den reichlichen Gebrauch entsprechender Unterhaltungsangebote so abgestumpft, daß ihn der Anblick der Leiche kalt ließ.

"Ist das alles?" fragte er verächtlich. "Wenn Sie nicht mehr zu bieten haben - das da nehmen wir in Kauf! Außerdem läßt sich da bestimmt noch was korrigieren."

"Glauben Sie wirklich, daß man das da mit einem bißchen Schminke reparieren könnte?" fragte Jonna scharf und wies auf jenes Etwas, das einmal Ogawas Gesicht gewesen war.

"Warum nicht?" fragte Carelli mit der für Dummköpfe seiner Art typischen Leichtfertigkeit. "Ich sehe da überhaupt kein Problem!"

"Machen Sie, was Sie wollen, aber Sie kriegen diese Leiche nicht!" erklärte Jonna schroff und brach die Verbindung ab.

Sie schaltete zu Maynard zurück.

"Legen Sie Ogawa erstmal auf Eis", bat sie.

Das machte den Schleusenmeister nicht gerade glücklich. Er wäre den toten Perlenspieler nur allzu gerne losgeworden - je schneller, desto besser.

"Tun Sie´s einfach!" sagte Jonna beschwichtigend. "Ich bin sicher, daß man sich das in Mittelerde noch gründlich überlegen wird. Warum einen Skandal heraufbeschwören, wenn es sich vermeiden läßt?"

Maynard gab nach.

Jonna verließ den Desinfektionsbereich und trat auf den Gang hinaus.

In einer Elcit-Pyramide wurde es niemals wirklich still. Ein stetes Summen und Brausen erfüllte das ganze gewaltige Bauwerk. Dieses Geräusch durchdrang alle Wände. Es würde niemals enden, solange es noch Leben in der Stadt gab. In manchen Räumen war es nur schwach zu hören, aber hier, im Bereich der Hauptschleuse der Zentral-Pyramide, war es sehr laut. An diesem Abend erinnerte es Jonna an das Summen und Brausen des Insektenschwarms, der sich von Ogawas Leiche erhoben hatte. Hinzu kam der Geruch. Sie spürte ihn nur, wenn sie von draußen hereinkam: Die Luft war schal, muffig und abgestanden.

Jonna fragte sich unwillkürlich, durch wieviele Lungen dieselben Liter Luft, die sie gerade einatmete, bereits gegangen waren, immer wieder gereinigt und aufbereitet, in einem schier endlosen Kreislauf, wie alles in dieser Stadt.

Natürlich wurden bei alledem die Gesetze der Hygiene strengstens beachtet. Es war nichts wirklich Unappetitliches daran.

Es sei denn, man kam von draußen herein und wurde die Erinnerung an einen von Maden wimmelnden Leichnam nicht los.

Jonna begab sich in die dritte Subetage hinab, orderte eine Wartungskapsel und fuhr damit zurück nach Camelot. An diesem Abend hätte sie das Gedränge in der Bahn nicht ertragen.


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