Die Aussicht von der Rampe aus war atemberaubend. Prächtige rotgoldene
Wolken standen am Himmel, in breit gefächerten Bahnen, wie das Gefieder
eines riesigen Vogels, leuchtend vor einem in Blaßblau und Meergrün
verschwimmenden Hintergrund, darunter ein flammend roter Horizont, gegen
den sich die westlich gelegenen Pyramiden als schwarze Dreiecke abzeichneten
- Avalon, Camelot und Lemuria, dahinter, etwas versetzt, Lothlorien und
Mu, die unbewohnt geblieben war.
Maynard schien von dieser Pracht nichts mitzukriegen. Er hatte nur Augen
für den Transporter.
"Sie sind spät dran!" bemerkte er. Dabei wanderte er um
das Solarmobil herum und musterte es mißtrauisch von allen Seiten.
Er trug eine dunkle Brille, um sich vor dem Licht der untergehenden Sonne
zu schützen. Eine weiße Cremeschicht bedeckte sein Gesicht.
Er war unvorsichtigerweise herausgekommen, um sich zu vergewissern, daß
Jonna den kostbaren Transporter nicht verbeult hatte. Jetzt blieb ihm
nichts anderes übrig, als zu bleiben und die heikle Fracht in Empfang
zu nehmen.
"Das System hat inzwischen rausgekriegt, wer Ihr Ausreißer
ist", sagte er. "Er heißt Akira Ogawa. Er hat in Mittelerde
gewohnt. Ich möchte bloß mal wissen, warum er sich den weiten
Weg gemacht und zu uns rübergekommen ist. Um Selbstmord zu begehen?
Wenn es nur das war - wieso hat er's nicht lieber auf die übliche
Weise getan, in aller Ruhe, in einem Saniscan, mit der Begrüßung
der Seligen und dem ganzen Drum und Dran?"
Mittelerde, am entgegengesetzten Ende von Elcit, wo die alte Stadt bis
an die Schleusen heranreichte...
Jonna dachte an den Kompaß und an den Stadtplan. Dieser Ausreißer,
das wußte sie jetzt schon, würde ihr noch viel Kopfzerbrechen
bereiten.
Sie ging um den Transporter herum und öffnete die Klappe zum Laderaum.
"Sie hätten ihn draußen lassen sollen!" brummte Maynard
mißmutig, als er das schwarze Paket entdeckte.
"Er hat unser Essen gegessen und unser Wasser getrunken", sagte
Jonna achselzuckend. "Er muß in den Recycling-Kreislauf zurückkehren."
"Und die verdammten Viecher?"
"Die haben sich von ihm ernährt. Sie sind jetzt ein Teil von
ihm."
"Das ist ekelhaft!"
"Da stimme ich Ihnen zu. Aber Gesetz ist Gesetz. Keine Angst - die
Tiere können nicht heraus."
Und das durften sie auch auf gar keinen Fall. Es befanden sich nicht nur
Maden in dem Paket - es waren auch Fliegen dabei. Unterwegs hatte Jonna
sie hören können, wie sie unter der Folie herumbrummten, verzweifelt
auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser schwarzen Todesfalle.
Der Gedanke an das Drama, das sich unter der Plastikhülle abspielte,
fraß an Jonnas Seele. Man hatte sie von frühester Kindheit
an gelehrt, das Leben zu achten - jede Art
von Leben - und sie hatte dieses Gebot in einem so hohen Maße verinnerlicht,
daß sie einfach nicht imstande war, die kleinen Aasfresser als "Ungeziefer"
abzutun. Sie mußten essen, um zu leben, wie alle anderen Geschöpfe
auch. Man konnte ihnen keinen Vorwurf daraus machen, daß sie einen
menschlichen Kadaver genauso behandelten, wie sie es mit einer toten Ratte
taten.
Jonna hätte es vorgezogen, sie von der Leiche zu entfernen. Sollten
sie ihr kleines Leben in Ruhe und Freiheit beenden - sie hatten ein Recht
darauf. Es war nicht richtig, sie in einen so grausamen und nutzlosen
Tod zu schicken und sie dabei zu allem Überfluß aus der ohnehin
noch immer erschreckend zerbrechlichen Nahrungskette der Außenwelt
zu entfernen.
Aber es war ihr nicht möglich gewesen, sie alle zu verjagen. Das
daraus resultierende Gefühl der Schuld machte sie reizbar.
"Rufen Sie endlich Ihre Leute!" befahl sie ungeduldig. "Ich
möchte das hier hinter mich bringen!"
Und natürlich wollte sie unter die Dusche und in den Saniscan. Sie
stank nach dem Deodorant, mit dem sie sich und die Leiche besprüht
hatte, um wenigstens einen Teil der Fliegen zu verscheuchen. Außerdem
hatte der Schutzanzug nicht bis zum Ende der Prozedur gehalten. Einige
Fliegen waren durch die Risse ins Innere des Anzugs gelangt. Jonna hatte
sie in ihrem Haar gespürt, und sie glaubte, gefühlt zu haben,
wie sich etwas in ihre Kopfhaut hineinbohrte. Das hatte eine psychosomatische
Reaktion bei ihr ausgelöst. Es kribbelte und krabbelte sie am ganzen
Leibe. Sie wünschte sich eine große Dosis Calcium und einen
Ort, an dem sie sich in aller Ruhe kratzen konnte, ohne daß jemand
Alarm schlug.
Maynard winkte zur Schleuse hinüber. Ein paar seiner Leute kamen
heraus. Sie trugen Schutzanzüge mit dicken Handschuhen und durchsichtigen
Helmen. Sie ekelten sich so sehr vor dem Inhalt des Bündels, daß
sie nur die äußersten Zipfel der Folie zu fassen wagten. Zu
viert transportierten sie Akira Ogawa durch die Schleuse. Ein fünfter
Außendienstler trug mit spitzen Fingern den Plastiksack mit den
restlichen Mitbringseln hinterdrein.
"Lassen Sie das alles hier gesondert durch eine Desinfektionskammer
laufen", sagte Jonna zu Maynard und reichte ihm den anderen Beutel,
der die Waffe, den Kompaß, den Stadtplan und ein paar andere Dinge
enthielt, die sie für spätere Untersuchungen aufbewahrt wissen
wollte. "Diese Sachen werden noch gebraucht!"
"Ich werde es weiterleiten", versprach Maynard mit deutlichem
Widerwillen. "Wissen Sie schon, warum er es getan hat?"
Jonna schüttelte schweigend den Kopf.
"Ich dachte, Sie hätten vielleicht einen Hinweis gefunden."
"Da draußen?" fragte Jonna sarkastisch.
"Er muß völlig verrückt gewesen sein", vermutete
Maynard.
Jonna hatte nicht die geringste Lust, dieses Thema hier und jetzt zu erörtern.
Sie begann statt dessen den Laderaum nach ungebetenen Gästen abzusuchen.
Akira Ogawa war nicht mehr besonders gut beieinander gewesen, und obwohl
Jonna ihn draußen verpackt hatte, gut zwanzig Meter vom Wagen entfernt,
konnte leicht etwas danebengegangen sein. Für die großen grauen
Fliegen waren solche Überreste von geradezu magischer Anziehungskraft.
"Der Name", sagte Maynard, der immer noch neben dem Wagen stand.
"Ich kann ihn im Moment nicht unterbringen, aber ich bin mir absolut
sicher, daß ich ihn schon gehört habe. Sie nicht auch?"
"Nein", erwiderte Jonna einsilbig.
Sie beendete ihre Inspektion und schloß die Luke. Sie drehte sich
um und sah, daß Maynard sie unentwegt beobachtete.
"Hören Sie zu", sagte sie ärgerlich. "Ich weiß
nichts über diesen Ogawa. Fragen Sie doch einfach in der Zentrale
nach!"
Maynard zuckte beleidigt die Achseln und zog sich zurück.
Jonna fuhr den Transporter in eine der Wartungsschleusen. Sie überließ
den Wagen der Automatik, warf alles, was sie am Leibe trug, in eine Desinfektionskammer,
ging unter die Dusche und legte sich anschließend in den Saniscan.
Der Sani entfernte ein paar hundert Fliegeneier und einige frisch geschlüpfte
Maden. Drei waren bereits unter die Kopfhaut gegangen - nur drei! Jonna
hätte wetten mögen, daß es mehr waren.
Sauber geschrubbt und mit frischer Kleidung versehen (Standardzeug aus
dem Automaten) wollte sie gerade die Schleuse verlassen, als hinter ihr
ein lautes Summen erklang. Unschlüssig blieb sie an der Tür
stehen, die Hand an der Klinke.
Sie hätte den Anruf am liebsten ignoriert. Sie war entsetzlich müde,
und sie hatte Durst. In ihrem Mund hielt sich hartnäckig der metallische
Nachgeschmack des Desinfektionsmittels, mit dem sie pflichtschuldigst
gegurgelt hatte, und sie kriegte den verdammten Leichengeruch nicht aus
der Nase. Es zog sie nach Hause, in ihr eigenes Bad und zu ihrem Küchenautomaten.
Aber das Summen hörte einfach nicht auf.
Es war Maynard. Der Schleusenmeister hatte die dunkle Brille abgenommen,
die dicke, weiße Cremeschicht aber noch nicht entfernt. Er sah aus
wie ein schlampig geschminktes Monster aus einem alten Schwarzweißfilm.
"Ich wußte doch, daß ich den Namen kenne!" sagte
er, sichtlich zufrieden mit sich und seinem Gedächtnis. "Ihr
Kunde war ein berühmter Mann, ein Perlenspieler. Haben Sie wirklich
noch nie was von Akira Ogawa gehört?"
Jonna
schüttelte wortlos den Kopf.
"Das ist merkwürdig. Man spricht doch schon in der ganzen Stadt
von ihm!"
"Ich habe wenig Zeit für solche Dinge", bemerkte Jonna.
"Ein bißchen Freizeit braucht jeder, und eine gute Perle bringt
einen für eine Weile auf andere Gedanken. Das hat noch keinem geschadet!"
"Haben Sie mich angerufen, um mir einen Vortrag über die therapeutische
Wirkung von Glasperlen zu halten?" fragte Jonna gereizt.
"Natürlich nicht!" versicherte Maynard hastig. "Ich
habe jemanden von der Comp-Animation am Apparat. Die wollen aus der Beisetzung
eine ganz große Sache machen. Aber ich kann denen doch nicht einfach
die Leiche aushändigen! Was soll ich tun?"
Eine interessante Frage.
Natürlich konnte man Akira Ogawa öffentlich beisetzen, aber
in der üblichen Weise aufbahren konnte man ihn nicht. Wenn überhaupt,
dann mußte man ihn der Trauergemeinde als geschlossenes Paket präsentieren,
in schwarze Folie gewickelt, wie Jonna ihn hereingebracht hatte. Es war
nicht schwer vorauszusehen, daß die Leute von der Comp-Animation
sich damit nicht zufriedengeben würden. Wahrscheinlich würden
sie klammheimlich die Folie öffnen, um sich mit eigenen Augen vom
Zustand der Leiche zu überzeugen. Nicht auszudenken, was dabei alles
passieren konnte!
"Geben Sie mir den Knaben mal rüber!" sagte Jonna seufzend.
Auf dem Schirm erschien ein auf jugendlich getrimmter Endvierziger, der
sich umgehend anschickte, eine salbungsvolle Rede vom Stapel zu lassen.
Jonna kam ihm zuvor, indem sie sagte:
"Ich gebe Ihnen einen guten Rat: Stellen Sie bei der Trauerfeier
ein Bild des Verstorbenen auf und lassen Sie es damit gut sein. Das ist
das Beste für alle Beteiligten."
"So geht das aber nicht!" protestierte Carelli sofort - sein
Name war am unteren Bildrand eingeblendet. "Der Mann war ein Künstler!
Er war sehr berühmt!"
"Für mich zählt nicht, was er war,
sondern nur, was er jetzt noch ist. Und so
leid es mir tut: Er ist nicht präsentabel."
"Seine Anhänger werden wissen wollen, was mit ihm passiert ist!"
"Dazu wird es eine offizielle Verlautbarung geben."
"Das reicht mir aber nicht! Dieser Mann wurde von vielen Leuten regelrecht
angebetet. Sie wissen doch, wie das in solchen Fällen ist! Wenn wir
Ogawas Fans nicht von Anfang an reinen Wein einschenken, werden bald die
wildesten Gerüchte im Umlauf sein. Am Ende heißt es vielleicht
sogar, daß Sie ihn umgebracht haben!"
Das würde man auf jeden Fall sagen. Die Protektoren waren als Sündenböcke
sehr beliebt.
"Liefern Sie uns die Leiche", fuhr Carelli fort, "und lassen
Sie mich und meine Leute darüber entscheiden, in welcher Form wir
Akira Ogawa der Öffentlichkeit präsentieren werden!"
"Bevor Sie weiterreden", sagte Jonna, "sollten Sie sich
ansehen, worauf Sie sich einzulassen gedenken. Dabei sollten Sie unbedingt
die Tatsache berücksichtigen, daß dies keine Trickaufnahmen
sind! Alles, was Sie jetzt zu sehen bekommen, ist echt, und eines garantiere
ich Ihnen: Allein schon der Geruch würde Ihren Trauergästen
den Magen umdrehen!"
Sie zeigte Carelli einige der Aufnahmen.
Der Mann von der Comp-Animation besah sich die ganze Bescherung mit bemerkenswerter
Gelassenheit. Entweder hatte er Jonnas Warnung gar nicht begriffen, oder
er war durch den reichlichen Gebrauch entsprechender Unterhaltungsangebote
so abgestumpft, daß ihn der Anblick der Leiche kalt ließ.
"Ist das alles?" fragte er verächtlich. "Wenn Sie
nicht mehr zu bieten haben - das da nehmen wir in Kauf! Außerdem
läßt sich da bestimmt noch was korrigieren."
"Glauben Sie wirklich, daß man das da mit einem bißchen
Schminke reparieren könnte?" fragte Jonna scharf und wies auf
jenes Etwas, das einmal Ogawas Gesicht gewesen war.
"Warum nicht?" fragte Carelli mit der für Dummköpfe
seiner Art typischen Leichtfertigkeit. "Ich sehe da überhaupt
kein Problem!"
"Machen Sie, was Sie wollen, aber Sie
kriegen diese Leiche nicht!" erklärte
Jonna schroff und brach die Verbindung ab.
Sie schaltete zu Maynard zurück.
"Legen Sie Ogawa erstmal auf Eis", bat sie.
Das machte den Schleusenmeister nicht gerade glücklich. Er wäre
den toten Perlenspieler nur allzu gerne losgeworden - je schneller, desto
besser.
"Tun Sie´s einfach!" sagte Jonna beschwichtigend. "Ich
bin sicher, daß man sich das in Mittelerde noch gründlich überlegen
wird. Warum einen Skandal heraufbeschwören, wenn es sich vermeiden
läßt?"
Maynard gab nach.
Jonna verließ den Desinfektionsbereich und trat auf den Gang hinaus.
In einer Elcit-Pyramide wurde es niemals wirklich still. Ein stetes Summen
und Brausen erfüllte das ganze gewaltige Bauwerk. Dieses Geräusch
durchdrang alle Wände. Es würde niemals enden, solange es noch
Leben in der Stadt gab. In manchen Räumen war es nur schwach zu hören,
aber hier, im Bereich der Hauptschleuse der Zentral-Pyramide, war es sehr
laut. An diesem Abend erinnerte es Jonna an das Summen und Brausen des
Insektenschwarms, der sich von Ogawas Leiche erhoben hatte. Hinzu kam
der Geruch. Sie spürte ihn nur, wenn sie von draußen hereinkam:
Die Luft war schal, muffig und abgestanden.
Jonna fragte sich unwillkürlich, durch wieviele Lungen dieselben
Liter Luft, die sie gerade einatmete, bereits gegangen waren, immer wieder
gereinigt und aufbereitet, in einem schier endlosen Kreislauf, wie alles
in dieser Stadt.
Natürlich wurden bei alledem die Gesetze der Hygiene strengstens
beachtet. Es war nichts wirklich Unappetitliches daran.
Es sei denn, man kam von draußen herein und wurde die Erinnerung
an einen von Maden wimmelnden Leichnam nicht los.
Jonna begab sich in die dritte Subetage hinab, orderte eine Wartungskapsel
und fuhr damit zurück nach Camelot. An diesem Abend hätte sie
das Gedränge in der Bahn nicht ertragen.
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