Myskiallen war um die sechzig. Er hatte ein fleischiges, grobporiges Gesicht,
wasserblaue Augen und eine große, schwere Nase. Er war einer der
derzeit höchsten Repräsentanten der Nachbarschaftshilfe - ein
gefährlicher Mann, ein Fanatiker und Formalist. Er forderte unverblümt
nicht mehr und nicht weniger als die Abschaffung des Außendienstes.
Immunität galt ihm als geradezu obszön, denn er hielt sie für
eine genetische Abweichung von den städtischen Normen, und die städtischen
Normen waren für ihn das absolute Ideal menschlichen Seins. Sein
Fanatismus hatte unverhohlen religiöse Züge, und sein Motto
lautete: Die Stadt ist Raum genug für uns.
Jonna verabscheute ihn aus tiefstem Herzen.
Myskiallen hielt sich nicht mit zeitraubenden Begrüßungs-Phrasen
auf, sondern kam sofort zum Zweck seines Anrufs.
"Carelli sagte mir, Sie hätten sich ihm gegenüber sehr
unkooperativ verhalten", verkündete er von oben herab. "Ich
gehe davon aus, daß dies lediglich auf sein Unvermögen zurückzuführen
ist, Ihnen den Ernst der Lage begreiflich zu machen."
"Sie können es sicher besser als er", bemerkte Jonna. "Legen
Sie los, ich bin ganz Ohr!"
Myskiallen musterte sie mißtrauisch.
"Haben Sie sich schon einen Eindruck von Ogawas Perlen verschafft?"
fragte er.
Jonna schüttelte wortlos den Kopf.
"Warum nicht? Halten Sie das etwa für überflüssig?"
Jonna war nicht gewillt, sich vor Myskiallen in irgendeiner Weise zu rechtfertigen.
"Bis jetzt", sagte sie, "weiß ich nur, daß
Sie und Ihre Leute Ogawas Perlen verboten haben."
"Und wahrscheinlich gehen Sie davon aus, daß dieses Verbot
ganz und gar überflüssig war", vermutete Myskiallen völlig
zu Recht. "Aber das stimmt nicht. Wir hatten keine andere Wahl. Ogawas
Perlen sind gefährlich - wir mußten sie aus dem Verkehr ziehen.
Wir haben es nur leider viel zu spät getan. Das ist der einzige Fehler,
den man uns in diesem Zusammenhang vorwerfen kann!"
Jonna nahm diese Behauptung kommentarlos zur Kenntnis.
"Ogawa", fuhr Myskiallen fort, "hat sich nach unserem Verbot
leider sehr unklug verhalten. Er hat sich seinen Fans als unterdrückter
Künstler präsentiert, als angehender Märtyrer. Ist das
nicht verrückt? Der Kerl hat überall herumerzählt, er sei
bedroht worden! Angeblich trachtete man ihm nach dem Leben - stellen Sie
sich das mal vor!"
"Ist er bedroht worden?"
"Woher soll ich das wissen? Von uns
jedenfalls nicht!"
"Und nun befürchten Sie, daß man Ihnen das nicht glauben
wird."
"Die werden behaupten, daß wir seinen Tod arrangiert haben!"
Jonna lächelte erfreut: das war der erste konkrete Hinweis in dieser
Sache und darüber hinaus ein interessanter Gedanke, dem sie mit Eifer
nachgehen würde.
"Natürlich wissen die Bürger, daß das Unsinn ist!"
erklärte Myskiallen hastig. "Die Leute brauchen einfach nur
jemanden, dem sie die Schuld geben können, und im ersten Schrecken
sind sie eben auf uns verfallen. Aber das wird sich bald ändern.
Dann wird man versuchen, Ihnen die Sache
in die Schuhe zu schieben. Es sollte in Ihrem eigenen Interesse liegen,
einer solchen Entwicklung vorzubeugen. Sie sind als Protektorin sowieso
ständigen Anfeindungen ausgesetzt. Wir sollten die Situation nicht
noch zusätzlich komplizieren!"
"Mit anderen Worten: ich soll die Leiche freigeben, weil Sie sich
Sorgen um meinen Ruf machen", stellte Jonna belustigt fest. "Seien
Sie mir nicht böse, Myskiallen, aber das nehme ich Ihnen nicht ab!
Abgesehen davon: Ogawa hat sich eine Kugel durch den Kopf gejagt. Auch
wenn sonst nicht mehr allzuviel von ihm zu erkennen ist: das Loch in seinem
Schädel ist nicht zu übersehen. Wenn wir seine Leiche zur Schau
stellen - was wir nicht können - werden wir genau jener Art von Gerede
Vorschub leisten, das Sie angeblich verhindern wollen!"
"Da bin ich anderer Meinung!" widersprach Myskiallen heftig.
"Wir werden die Wunde irgendwie verdecken. Eine Aufbahrung der Leiche
und eine öffentliche Beisetzung..."
"Nein."
"Wir könnten ihn in eine durchsichtige Folie hüllen",
sagte Myskiallen ungeduldig. "Wäre das
eine Lösung, die Sie akzeptieren könnten?"
Jonna schüttelte den Kopf.
"Das wird nicht gehen", erklärte sie.
In jäh aufflammendem Zorn sprang Myskiallen auf, so heftig, so schnell,
so nahe an die Optik heran, als wollte er - hochrot im Gesicht - durch
den Bildschirm springen:
"WARUM SIND SIE BLOSS SO STUR!"
Jonna ließ den Scanner die Bilder von der Leiche auf Myskiallens
Schirm schalten.
"Darum. Sehen Sie sich das ruhig genau an. Der Körper ist natürlich
in Plastik eingeschweißt, aber die Folie ist undurchsichtig - ich
müßte sie entfernen und den armen Kerl noch mal neu verpacken.
Ich habe keine Lust, das hier im Innern der Stadt zu tun, und wieder rausbringen
kann ich ihn erst recht nicht. Das System würde das nicht zulassen."
Myskiallen schwieg. Jonna wartete.
"Diesmal muß ich Ihnen recht geben", sagte Myskiallen
schließlich. "Carelli ist ein Idiot. Wir können diese
Leiche nicht verwenden."
Jonna starrte ihn schweigend an, sprachlos vor Überraschung. Sie
hatte einen Wutausbruch erwartet, Drohungen, Einschüchterungsversuche,
Hinweise auf diverse Absprachen zum Thema Kompetenzen - alles, nur keine
Einsicht.
"Das ist schlimm", fuhr Myskiallen fort. "Eine öffentliche
Beisetzung wäre eine gute Gelegenheit, Gerüchten vorzubeugen."
Nach Jonnas Erfahrungen funktionierte so etwas so gut wie nie. Es war
eher umgekehrt: Rückgabezeremonien waren die mit Abstand ergiebigsten
Brutstätten für Gerüchte aller Art.
"Sind Sie denn sicher, daß es überhaupt Gerüchte
geben wird?" fragte sie skeptisch. "Ogawa ist doch erst vor
kurzer Zeit in der Szene aufgetaucht."
"Das ist ja das Problem!" erwiderte Myskiallen ungeduldig. "Wäre
er schon seit längerem berühmt gewesen, hätten wir Mittel
und Wege gefunden, seinen Ruf und seine Glaubwürdigkeit in aller
Ruhe zu demontieren."
Jonna vernahm es mit Erstaunen. Es kam selten vor, daß ein Vertreter
der Nachbarschaftshilfe so ungeniert die Maske permanenten Wohlwollens
fallenließ.
"Bei dem ungeheuren Tempo, mit dem diese ganze Sache sich entwickelt
hat", fuhr Myskiallen fort, "blieb uns leider keine Zeit für
solche Maßnahmen."
"Eigentlich hätten Sie doch bei Ogawa auf Überraschungen
gefaßt sein müssen!"
"Wegen der singenden Würmer? Was glauben Sie denn, was wir getan
haben? Wir haben den Mann zwei Jahre lang auf Schritt und Tritt beobachtet.
Er schien ausgebrannt zu sein - er hat einfach nichts mehr gebracht. Und
dann, ganz plötzlich, war er oben. Es war beängstigend. Und
es wird nicht aufhören, nur weil er tot ist. Ganz im Gegenteil, seine
Fangemeinde wächst von Tag zu Tag - unaufhaltsam. Die Leute vergöttern
ihn geradezu. Bei der Comp-Animation behauptet man ganz offen, daß
er ermordet wurde."
"Vielleicht stimmt das ja sogar", bemerkte Jonna. "Wer
sagt denn, daß er freiwillig nach draußen gegangen ist? Man
könnte ihn dazu gezwungen haben."
"Wenn jemand die Absicht gehabt hätte, ihn umzubringen, hätte
man das hier drinnen erledigt!" widersprach Myskiallen heftig. "Keiner
von uns käme auf die perverse Idee, jemanden in diese Hölle
da draußen zu schicken. Mal von allem anderen abgesehen - der Täter
hätte mit Ogawa in eine offene Schleuse gehen müssen. Wer sollte
so etwas tun?"
"Jemand, bei dem Ogawas Perlen die Ängste vor der Außenwelt
erfolgreich abgebaut haben", bemerkte Jonna spöttisch.
"Haben Sie nicht zugehört?" fragte Myskiallen wütend.
"Die Leute, bei denen diese verdammten Perlen wirken, würden
möglicherweise selbst nach draußen gehen. Aber keiner von denen
würde Ogawa ermorden. Sie vergöttern
ihn - schon vergessen? Wir müssen etwas unternehmen! Wir können
uns gerade in diesem Fall keine Legendenbildung leisten!"
"Warum glauben Sie, daß eine öffentliche Beisetzung die
Situation entschärfen könnte?"
"Weil wir Ogawas Fans auf diese Weise vielleicht wenigstens dazu
bringen können, die Tatsache zu akzeptieren, daß ihr Idol tatsächlich
tot ist. Ich fürchte nämlich, daß viele Leute gar nicht
an sein Ende glauben werden. Wenn wir ihnen nicht wenigstens seine Leiche
zeigen, werden diese Spinner anfangen, nach ihrem Guru zu suchen!"
"In der Außenwelt?" fragte
Jonna ungläubig.
"Sie würden ihn überall suchen",
behauptete Myskiallen. "Sogar in der Hölle, wenn das nötig
wäre! Aber diese Leiche dort..."
Er winkte resignierend ab.
Jonna beobachtete ihren Gesprächspartner aufmerksam. Sie fragte sich,
was Myskiallen im Schilde führte.
"Was erwarten Sie von mir?" fragte sie schließlich.
"Ich weiß es nicht", gestand Myskiallen. Es klang ratlos
- und es klang ehrlich. Er seufzte und fuhr fort:
"Harper, ich weiß, was Sie von mir halten. Sie mögen mich
nicht, und ich mag Sie auch nicht. Aber hier geht es nicht um eine unserer
üblichen Meinungsverschiedenheiten. Sie sollen mir keinen persönlichen
Gefallen tun. Sie sollen mir lediglich helfen, diese Stadt vor Schaden
zu bewahren. Und bei allen Differenzen, die wir miteinander hatten: Ich
vertraue fest darauf, daß Ihnen das Wohl dieser Stadt genauso sehr
am Herzen liegt, wie mir! Ich selbst finde im Moment keine Antwort und
keine Lösung, aber vielleicht fällt Ihnen etwas ein - irgend
etwas, ein Trick, eine Möglichkeit, diese ganze Sache doch noch einigermaßen
unverfänglich über die Bühne zu bringen!"
Vielleicht wollte er nur die günstige Gelegenheit nutzen und sich
Beweise dafür verschaffen, daß Protektoren im Allgemeinen und
Jonna Harper im Besonderen unter bestimmten Umständen bereit waren,
um der Sache willen gewisse Zugeständnisse zu machen. Myskiallen
würde sich keine Gelegenheit entgehen lassen, den Außendienst
vor dem Rat bloßzustellen.
"Wie hat der Kerl bloß an eine Waffe kommen können! Haben
Sie schon feststellen können, woher er sie hatte?"
Natürlich - diese Frage hatte ja kommen müssen.
Wie sollte sie ihm begreiflich machen, daß die Waffe verschwunden
war?
Vielleicht weiß er es schon. Maynard könnte
es ihm gesteckt haben. Oder einer von Maynards Leuten.
War das die Falle?
"Nein", sagte sie. "Ich weiß es nicht."
Was ja - streng genommen - sogar der Wahrheit entsprach. Aber solche Winkelzüge
lagen ihr nicht. Sie hatte dabei das unangenehme Gefühl, sich auf
sein Niveau hinabzubegeben.
"Es sollte längst keine Waffen in der Stadt mehr geben!"
sagte Myskiallen heftig.
Jonna stellte erleichtert fest, daß er nichts vom Verschwinden der
Beweisstücke ahnte.
"Alle Waffen müssen verboten, eingezogen und vernichtet werden!"
forderte Myskiallen.
"Der Besitz von Waffen ist verboten!"
stellte Jonna fest.
"Dieses Verbot wird nicht streng genug gehandhabt!"
"Das ist eine innerstädtische Angelegenheit. Wenn Sie entsprechende
Kontrollen durchführen wollen - bitte sehr! Niemand hindert Sie daran."
"Sie wissen genau, daß das nicht wahr ist! Wenn Kontrollen
im großen Stil Erfolg haben sollen, müssen wir Sperren errichten.
Die Hauptkorridore, die Liftschächte, die Rampen - wir können
nicht jedesmal warten, bis ein Protektor sich dazu herabläßt,
uns zu helfen! Wir brauchen den Zugriff auf den Scan-Code. Aber ihr Protektoren
weigert euch, ihn uns zu geben. Warum eigentlich? Haben Sie Angst, daß
Sie Ihre Daseinsberechtigung verlieren könnten, wenn die Gewalt in
der Stadt wirksam eingedämmt wird? Ist es nicht so, daß der
Außendienst die Aggressivität der Bürger braucht und sie
daher fördert?"
Dieser Vorwurf war absurd. Aufgabe der Protektoren war es, die Bürger
zu beschützen. Alle Bürger - vor
allen Gefahren. Auch vor solchen wie denen,
die von Leuten wie Myskiallen ausgingen.
Abgesehen davon: der Scan-Code war absolut tabu. Über ihn konnte
man die Stadt kontrollieren, und weil das so war, mußten Leute wie
Jonna sich der ständigen Kontrolle durch die Observer und das System
unterwerfen. Kein Protektor konnte hingehen und den Scan-Code an andere
Leute übermitteln. Das System hätte ihm sofort jede Legitimation
entzogen. Auch die Protektoren erhielten den Zugriff auf die Scan-Sequenzen
nicht von ihren Kollegen oder ihren Observern, sondern vom System selbst.
Aber das war etwas, was Myskiallen auf keinen Fall erfahren durfte. Er
und seine Leute sollten ruhig glauben, daß es allein die Sturheit
der Protektoren war, die ihnen die Tour vermasselte. Solange sie sich
nämlich auf Jonna und ihre Kollegen konzentrierten, kamen sie wenigstens
nicht auf die Idee, sich allzu intensiv mit dem System selbst zu beschäftigen.
Denn das System war trotz der Scan-Sequenzen verwundbar, und die Findigkeit
der Bürger auf diesem Gebiet war grandios.
"Die Aggressivität der Bürger", sagte Jonna bedächtig,
"ist ein ganz natürlicher Faktor, den weder Sie noch wir auf
Dauer unterdrücken oder gar beseitigen können. Die Bürger
sind nun mal lebende Menschen, mit allen Fehlern und Schwächen. Sie
leben auf engstem Raum zusammen - kein Wunder, daß sie sich gelegentlich
auf die Nerven gehen! Geben Sie Ihnen ab und zu eine Gelegenheit, sich
auszutoben, dann werden sich viele Probleme in Luft auflösen."
"Aha", erwiderte Myskiallen mit ätzendem Spott. "Wie
lauten denn Ihre Vorschläge zu diesem Thema? Sollen wir Schwerter
und Spieße verteilen und Kampfspiele veranstalten?"
Muß das unbedingt heute sein? dachte
Jonna deprimiert. Dieser verdammte Kerl geht mir
sowas von auf den Wecker...
"Natürlich nicht", sagte sie. "Aber Sie könnten
mehr Traumzeit-Therapien
bewilligen!"
"Das ist ein seltsamer Vorschlag! Haben Sie noch nicht mitgekriegt,
daß wir schon jetzt Zehntausende von Jadrin-Süchtigen haben?
Sie alle waren in der Traumzeit. Genau das
hat sie in die Sucht hineingetrieben."
"Nein", sagte Jonna. "Nicht die Therapie führt zur
Sucht, sondern die Art und Weise, wie Ihre Therapeuten dabei mit dem Jadrin
umgehen. Erstens dosieren sie das Zeug viel zu hoch, zweitens brechen
sie die Therapie zu früh ab - ihre Patienten kommen heraus, ehe sie
sich ausreichend abreagiert haben. Kein Wunder, daß diese Leute
dann losgehen und es auf eigene Faust versuchen! Drittens nehmen Ihre
Therapeuten viele Probleme gar nicht erst zur Kenntnis. Wenn man aber
die Auseinandersetzung mit einem Problem nicht zuläßt, kann
man auch nicht erwarten, daß es gelöst wird."
"Das können Sie überhaupt nicht beurteilen!" knurrte
Myskiallen wütend. "Was verstehen Sie schon von der Arbeit unserer
Therapeuten! Sie sind Protektorin - kümmern Sie sich um Ihre
Aufgaben!"
"Meine Aufgabe ist es, für die Sicherheit der Stadt zu sorgen",
konterte Jonna. "Und wenn die Arbeitsweise Ihrer Leute zu einem Faktor
wird, der diese Sicherheit bedroht, dann geht mich das sehr wohl etwas
an!"
Dagegen konnte er wenig sagen. Aber natürlich wollte er sich nicht
so schnell geschlagen geben - er mußte unbedingt weiter auf der
Sache herumhacken.
"Wir müssen die Waffen aus der Stadt entfernen!" sagte
er. "Alle Waffen!"
"Und wie stellen Sie sich das vor? Wollen Sie die Privaträume
der Bürger filzen?"
"Warum nicht?" fragte Myskiallen herausfordernd.
"Und wonach genau wollen Sie suchen?"
"Sind Sie schwerhörig? Nach Waffen!"
"Darf ich fragen, wie Sie diesen Begriff definieren wollen?"
"Das dürfte doch wohl nicht weiter schwierig sein!" sagte
Myskiallen verächtlich.
"Na schön", sagte Jonna. "Bei den Schußwaffen
ist es tatsächlich einfach, da haben Sie recht. Aber wie ich bereits
sagte: Solche Waffen sind verboten. Wir ziehen
sie ein, wo immer sie auftauchen. Was also gedenken Sie in den Wohnungen
der Bürger sonst noch alles einzukassieren?"
"Alles, was zum Töten dient!"
"Sie machen sich das sehr leicht!" warnte Jonna.
"Das denke ich nicht!" erwiderte Myskiallen. "Sie
machen es sich leicht, indem Sie uns immer wieder mit diesem liberalen
Quatsch kommen. Aber gerade in der vorigen Woche hat es in Camelot einen
Mord gegeben. Haben Sie das mitgekriegt? Muß das sein? Wollen Sie
gar nichts dagegen unternehmen?"
Jonna betrachtete ihn nachdenklich.
Bei der Nachbarschaftshilfe neigte man schon seit jeher dazu, die Bürger
zu bevormunden, ihnen alles und jedes vorzuschreiben und sie zu zwingen,
sich dem System in jeder Beziehung unterzuordnen. Hätte man Leute
wie Myskiallen gewähren lassen, dann wären die Bewohner von
Elcit innerhalb kürzester Zeit zur bloßen Biomasse verkommen.
"Die Leute brauchen ein bißchen Freiheit", sagte sie.
"Stellen Sie sich doch bloß mal vor, was Sie alles konfiszieren
müßten! All diese kostbaren Artefakten aus der Alten Zeit -
es würde die Bürger auf die Barrikaden treiben!"
"Dann müssen wir sie von dort wieder herunterholen!"
"Mit Gewalt?"
"Wenn es nötig ist - ja!"
"Na gut", sagte Jonna. "Denken wir mal darüber nach,
was man alles als Waffen verwenden kann. Es gibt Sportvereine, in denen
die Bürger mit Pfeil und Bogen umgehen - man kann einen Menschen
mit einem Pfeil erschießen. Oder ihn mit einer Gymnastikkeule erschlagen.
Man kann ihn sogar mit der bloßen Faust umbringen. Was gedenken
Sie mit den Kampfsportlern zu tun? Wollen Sie denen Hände und Füße
abhacken?"
"Wir werden die Kampfschulen verbieten!" zischte Myskiallen
ihr wütend ins Gesicht.
"Na schön, darüber könnte man zur Not noch diskutieren.
Aber wenn ich Ihnen einen Stuhl heftig genug über den Schädel
schlage, sind Sie hinüber. Wollen Sie den Gebrauch von Stühlen
verbieten? Und was ist mit den Wänden? Wenn man jemanden hart genug
mit dem Kopf gegen eine Wand stößt, wird er sterben. Wollen
Sie alle Wände der Stadt einreißen?"
Myskiallen starrte sie an, sprachlos vor Wut.
"Bitte verstehen Sie mich nicht falsch", sagte Jonna. "Ich
hasse Waffen, und ich hasse jede Art von Gewalt. Aber solange Menschen
in dieser Stadt leben, wird es immer wieder Gewalttaten geben. Man kann
sie einschränken, aber ganz und gar verhindern kann man sie nicht.
Eine absolut gewaltfreie Welt ist eine unerfüllbare Utopie. Wenn
Sie wirklich sichergehen wollen, daß nie wieder ein Mensch in dieser
Stadt gewaltsam ums Leben kommt, müssen Sie die Bewohner samt und
sonders vergiften. Die Gewalt kann man nicht verbieten
- wir alle müssen einfach nur lernen, damit umzugehen! Sicher können
Sie einen Menschen vor dem Ertrinken retten, indem sie ihn von jedem Schwimmbecken
fernhalten, aber wesentlich besser ist es, ihn zu lehren, wie man schwimmt!
Und was diesen Mord angeht, von dem sie vorhin sprachen - der Mörder
hat sein Opfer mit einer Bettdecke erstickt. Wollen Sie den Leuten die
Decken wegnehmen?"
Myskiallen starrte sie immer noch an. Sie wartete auf den Wutausbruch,
der unweigerlich kommen mußte. Statt dessen begann er zu lachen.
"Jetzt haben Sie es mir aber ordentlich gegeben!" sagte er.
"Ich hätte mich vorher wegen dieser Mordsache erkundigen sollen!
Das war dumm von mir. - Was ist bloß los mit uns, Harper! Eigentlich
stehen wir doch auf derselben Seite! Wir beide könnten uns ganz gut
verstehen! Warum gehen wir vor dem Rat immer wieder aufeinander los?"
"Ich bin noch nie auf Sie losgegangen", stellte Jonna fest.
"Sie haben recht - ich bin derjenige,
der anfängt."
Allmählich wurde ihr die Sache unheimlich. Was war mit Myskiallen
passiert? Sein Verhalten war geradezu unnatürlich. In all den Jahren
hatte sie ihn noch nie so friedfertig erlebt.
Zu ihrer eigenen Überraschung hörte sie sich sagen:
"Ich werde über die Sache mit Akira Ogawa nachdenken."
"Mehr kann ich nicht von ihnen verlangen", sagte Myskiallen.
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