Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 8:
Myskiallen
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Myskiallen war um die sechzig. Er hatte ein fleischiges, grobporiges Gesicht, wasserblaue Augen und eine große, schwere Nase. Er war einer der derzeit höchsten Repräsentanten der Nachbarschaftshilfe - ein gefährlicher Mann, ein Fanatiker und Formalist. Er forderte unverblümt nicht mehr und nicht weniger als die Abschaffung des Außendienstes. Immunität galt ihm als geradezu obszön, denn er hielt sie für eine genetische Abweichung von den städtischen Normen, und die städtischen Normen waren für ihn das absolute Ideal menschlichen Seins. Sein Fanatismus hatte unverhohlen religiöse Züge, und sein Motto lautete: Die Stadt ist Raum genug für uns. Jonna verabscheute ihn aus tiefstem Herzen.

Myskiallen hielt sich nicht mit zeitraubenden Begrüßungs-Phrasen auf, sondern kam sofort zum Zweck seines Anrufs.

"Carelli sagte mir, Sie hätten sich ihm gegenüber sehr unkooperativ verhalten", verkündete er von oben herab. "Ich gehe davon aus, daß dies lediglich auf sein Unvermögen zurückzuführen ist, Ihnen den Ernst der Lage begreiflich zu machen."

"Sie können es sicher besser als er", bemerkte Jonna. "Legen Sie los, ich bin ganz Ohr!"

Myskiallen musterte sie mißtrauisch.

"Haben Sie sich schon einen Eindruck von Ogawas Perlen verschafft?" fragte er.

Jonna schüttelte wortlos den Kopf.

"Warum nicht? Halten Sie das etwa für überflüssig?"

Jonna war nicht gewillt, sich vor Myskiallen in irgendeiner Weise zu rechtfertigen.

"Bis jetzt", sagte sie, "weiß ich nur, daß Sie und Ihre Leute Ogawas Perlen verboten haben."

"Und wahrscheinlich gehen Sie davon aus, daß dieses Verbot ganz und gar überflüssig war", vermutete Myskiallen völlig zu Recht. "Aber das stimmt nicht. Wir hatten keine andere Wahl. Ogawas Perlen sind gefährlich - wir mußten sie aus dem Verkehr ziehen. Wir haben es nur leider viel zu spät getan. Das ist der einzige Fehler, den man uns in diesem Zusammenhang vorwerfen kann!"

Jonna nahm diese Behauptung kommentarlos zur Kenntnis.

"Ogawa", fuhr Myskiallen fort, "hat sich nach unserem Verbot leider sehr unklug verhalten. Er hat sich seinen Fans als unterdrückter Künstler präsentiert, als angehender Märtyrer. Ist das nicht verrückt? Der Kerl hat überall herumerzählt, er sei bedroht worden! Angeblich trachtete man ihm nach dem Leben - stellen Sie sich das mal vor!"

"Ist er bedroht worden?"

"Woher soll ich das wissen? Von uns jedenfalls nicht!"

"Und nun befürchten Sie, daß man Ihnen das nicht glauben wird."

"Die werden behaupten, daß wir seinen Tod arrangiert haben!"

Jonna lächelte erfreut: das war der erste konkrete Hinweis in dieser Sache und darüber hinaus ein interessanter Gedanke, dem sie mit Eifer nachgehen würde.

"Natürlich wissen die Bürger, daß das Unsinn ist!" erklärte Myskiallen hastig. "Die Leute brauchen einfach nur jemanden, dem sie die Schuld geben können, und im ersten Schrecken sind sie eben auf uns verfallen. Aber das wird sich bald ändern. Dann wird man versuchen, Ihnen die Sache in die Schuhe zu schieben. Es sollte in Ihrem eigenen Interesse liegen, einer solchen Entwicklung vorzubeugen. Sie sind als Protektorin sowieso ständigen Anfeindungen ausgesetzt. Wir sollten die Situation nicht noch zusätzlich komplizieren!"

"Mit anderen Worten: ich soll die Leiche freigeben, weil Sie sich Sorgen um meinen Ruf machen", stellte Jonna belustigt fest. "Seien Sie mir nicht böse, Myskiallen, aber das nehme ich Ihnen nicht ab! Abgesehen davon: Ogawa hat sich eine Kugel durch den Kopf gejagt. Auch wenn sonst nicht mehr allzuviel von ihm zu erkennen ist: das Loch in seinem Schädel ist nicht zu übersehen. Wenn wir seine Leiche zur Schau stellen - was wir nicht können - werden wir genau jener Art von Gerede Vorschub leisten, das Sie angeblich verhindern wollen!"

"Da bin ich anderer Meinung!" widersprach Myskiallen heftig. "Wir werden die Wunde irgendwie verdecken. Eine Aufbahrung der Leiche und eine öffentliche Beisetzung..."

"Nein."

"Wir könnten ihn in eine durchsichtige Folie hüllen", sagte Myskiallen ungeduldig. "Wäre das eine Lösung, die Sie akzeptieren könnten?"

Jonna schüttelte den Kopf.

"Das wird nicht gehen", erklärte sie.

In jäh aufflammendem Zorn sprang Myskiallen auf, so heftig, so schnell, so nahe an die Optik heran, als wollte er - hochrot im Gesicht - durch den Bildschirm springen:

"WARUM SIND SIE BLOSS SO STUR!"

Jonna ließ den Scanner die Bilder von der Leiche auf Myskiallens Schirm schalten.

"Darum. Sehen Sie sich das ruhig genau an. Der Körper ist natürlich in Plastik eingeschweißt, aber die Folie ist undurchsichtig - ich müßte sie entfernen und den armen Kerl noch mal neu verpacken. Ich habe keine Lust, das hier im Innern der Stadt zu tun, und wieder rausbringen kann ich ihn erst recht nicht. Das System würde das nicht zulassen."

Myskiallen schwieg. Jonna wartete.

"Diesmal muß ich Ihnen recht geben", sagte Myskiallen schließlich. "Carelli ist ein Idiot. Wir können diese Leiche nicht verwenden."

Jonna starrte ihn schweigend an, sprachlos vor Überraschung. Sie hatte einen Wutausbruch erwartet, Drohungen, Einschüchterungsversuche, Hinweise auf diverse Absprachen zum Thema Kompetenzen - alles, nur keine Einsicht.

"Das ist schlimm", fuhr Myskiallen fort. "Eine öffentliche Beisetzung wäre eine gute Gelegenheit, Gerüchten vorzubeugen."

Nach Jonnas Erfahrungen funktionierte so etwas so gut wie nie. Es war eher umgekehrt: Rückgabezeremonien waren die mit Abstand ergiebigsten Brutstätten für Gerüchte aller Art.

"Sind Sie denn sicher, daß es überhaupt Gerüchte geben wird?" fragte sie skeptisch. "Ogawa ist doch erst vor kurzer Zeit in der Szene aufgetaucht."

"Das ist ja das Problem!" erwiderte Myskiallen ungeduldig. "Wäre er schon seit längerem berühmt gewesen, hätten wir Mittel und Wege gefunden, seinen Ruf und seine Glaubwürdigkeit in aller Ruhe zu demontieren."

Jonna vernahm es mit Erstaunen. Es kam selten vor, daß ein Vertreter der Nachbarschaftshilfe so ungeniert die Maske permanenten Wohlwollens fallenließ.

"Bei dem ungeheuren Tempo, mit dem diese ganze Sache sich entwickelt hat", fuhr Myskiallen fort, "blieb uns leider keine Zeit für solche Maßnahmen."

"Eigentlich hätten Sie doch bei Ogawa auf Überraschungen gefaßt sein müssen!"

"Wegen der singenden Würmer? Was glauben Sie denn, was wir getan haben? Wir haben den Mann zwei Jahre lang auf Schritt und Tritt beobachtet. Er schien ausgebrannt zu sein - er hat einfach nichts mehr gebracht. Und dann, ganz plötzlich, war er oben. Es war beängstigend. Und es wird nicht aufhören, nur weil er tot ist. Ganz im Gegenteil, seine Fangemeinde wächst von Tag zu Tag - unaufhaltsam. Die Leute vergöttern ihn geradezu. Bei der Comp-Animation behauptet man ganz offen, daß er ermordet wurde."

"Vielleicht stimmt das ja sogar", bemerkte Jonna. "Wer sagt denn, daß er freiwillig nach draußen gegangen ist? Man könnte ihn dazu gezwungen haben."

"Wenn jemand die Absicht gehabt hätte, ihn umzubringen, hätte man das hier drinnen erledigt!" widersprach Myskiallen heftig. "Keiner von uns käme auf die perverse Idee, jemanden in diese Hölle da draußen zu schicken. Mal von allem anderen abgesehen - der Täter hätte mit Ogawa in eine offene Schleuse gehen müssen. Wer sollte so etwas tun?"

"Jemand, bei dem Ogawas Perlen die Ängste vor der Außenwelt erfolgreich abgebaut haben", bemerkte Jonna spöttisch.

"Haben Sie nicht zugehört?" fragte Myskiallen wütend. "Die Leute, bei denen diese verdammten Perlen wirken, würden möglicherweise selbst nach draußen gehen. Aber keiner von denen würde Ogawa ermorden. Sie vergöttern ihn - schon vergessen? Wir müssen etwas unternehmen! Wir können uns gerade in diesem Fall keine Legendenbildung leisten!"

"Warum glauben Sie, daß eine öffentliche Beisetzung die Situation entschärfen könnte?"

"Weil wir Ogawas Fans auf diese Weise vielleicht wenigstens dazu bringen können, die Tatsache zu akzeptieren, daß ihr Idol tatsächlich tot ist. Ich fürchte nämlich, daß viele Leute gar nicht an sein Ende glauben werden. Wenn wir ihnen nicht wenigstens seine Leiche zeigen, werden diese Spinner anfangen, nach ihrem Guru zu suchen!"

"In der Außenwelt?" fragte Jonna ungläubig.

"Sie würden ihn überall suchen", behauptete Myskiallen. "Sogar in der Hölle, wenn das nötig wäre! Aber diese Leiche dort..."

Er winkte resignierend ab.

Jonna beobachtete ihren Gesprächspartner aufmerksam. Sie fragte sich, was Myskiallen im Schilde führte.

"Was erwarten Sie von mir?" fragte sie schließlich.

"Ich weiß es nicht", gestand Myskiallen. Es klang ratlos - und es klang ehrlich. Er seufzte und fuhr fort:

"Harper, ich weiß, was Sie von mir halten. Sie mögen mich nicht, und ich mag Sie auch nicht. Aber hier geht es nicht um eine unserer üblichen Meinungsverschiedenheiten. Sie sollen mir keinen persönlichen Gefallen tun. Sie sollen mir lediglich helfen, diese Stadt vor Schaden zu bewahren. Und bei allen Differenzen, die wir miteinander hatten: Ich vertraue fest darauf, daß Ihnen das Wohl dieser Stadt genauso sehr am Herzen liegt, wie mir! Ich selbst finde im Moment keine Antwort und keine Lösung, aber vielleicht fällt Ihnen etwas ein - irgend etwas, ein Trick, eine Möglichkeit, diese ganze Sache doch noch einigermaßen unverfänglich über die Bühne zu bringen!"

Vielleicht wollte er nur die günstige Gelegenheit nutzen und sich Beweise dafür verschaffen, daß Protektoren im Allgemeinen und Jonna Harper im Besonderen unter bestimmten Umständen bereit waren, um der Sache willen gewisse Zugeständnisse zu machen. Myskiallen würde sich keine Gelegenheit entgehen lassen, den Außendienst vor dem Rat bloßzustellen.

"Wie hat der Kerl bloß an eine Waffe kommen können! Haben Sie schon feststellen können, woher er sie hatte?"

Natürlich - diese Frage hatte ja kommen müssen.

Wie sollte sie ihm begreiflich machen, daß die Waffe verschwunden war?

Vielleicht weiß er es schon. Maynard könnte es ihm gesteckt haben. Oder einer von Maynards Leuten.

War das die Falle?

"Nein", sagte sie. "Ich weiß es nicht."

Was ja - streng genommen - sogar der Wahrheit entsprach. Aber solche Winkelzüge lagen ihr nicht. Sie hatte dabei das unangenehme Gefühl, sich auf sein Niveau hinabzubegeben.

"Es sollte längst keine Waffen in der Stadt mehr geben!" sagte Myskiallen heftig.

Jonna stellte erleichtert fest, daß er nichts vom Verschwinden der Beweisstücke ahnte.

"Alle Waffen müssen verboten, eingezogen und vernichtet werden!" forderte Myskiallen.

"Der Besitz von Waffen ist verboten!" stellte Jonna fest.

"Dieses Verbot wird nicht streng genug gehandhabt!"

"Das ist eine innerstädtische Angelegenheit. Wenn Sie entsprechende Kontrollen durchführen wollen - bitte sehr! Niemand hindert Sie daran."

"Sie wissen genau, daß das nicht wahr ist! Wenn Kontrollen im großen Stil Erfolg haben sollen, müssen wir Sperren errichten. Die Hauptkorridore, die Liftschächte, die Rampen - wir können nicht jedesmal warten, bis ein Protektor sich dazu herabläßt, uns zu helfen! Wir brauchen den Zugriff auf den Scan-Code. Aber ihr Protektoren weigert euch, ihn uns zu geben. Warum eigentlich? Haben Sie Angst, daß Sie Ihre Daseinsberechtigung verlieren könnten, wenn die Gewalt in der Stadt wirksam eingedämmt wird? Ist es nicht so, daß der Außendienst die Aggressivität der Bürger braucht und sie daher fördert?"

Dieser Vorwurf war absurd. Aufgabe der Protektoren war es, die Bürger zu beschützen. Alle Bürger - vor allen Gefahren. Auch vor solchen wie denen, die von Leuten wie Myskiallen ausgingen.

Abgesehen davon: der Scan-Code war absolut tabu. Über ihn konnte man die Stadt kontrollieren, und weil das so war, mußten Leute wie Jonna sich der ständigen Kontrolle durch die Observer und das System unterwerfen. Kein Protektor konnte hingehen und den Scan-Code an andere Leute übermitteln. Das System hätte ihm sofort jede Legitimation entzogen. Auch die Protektoren erhielten den Zugriff auf die Scan-Sequenzen nicht von ihren Kollegen oder ihren Observern, sondern vom System selbst.

Aber das war etwas, was Myskiallen auf keinen Fall erfahren durfte. Er und seine Leute sollten ruhig glauben, daß es allein die Sturheit der Protektoren war, die ihnen die Tour vermasselte. Solange sie sich nämlich auf Jonna und ihre Kollegen konzentrierten, kamen sie wenigstens nicht auf die Idee, sich allzu intensiv mit dem System selbst zu beschäftigen.

Denn das System war trotz der Scan-Sequenzen verwundbar, und die Findigkeit der Bürger auf diesem Gebiet war grandios.

"Die Aggressivität der Bürger", sagte Jonna bedächtig, "ist ein ganz natürlicher Faktor, den weder Sie noch wir auf Dauer unterdrücken oder gar beseitigen können. Die Bürger sind nun mal lebende Menschen, mit allen Fehlern und Schwächen. Sie leben auf engstem Raum zusammen - kein Wunder, daß sie sich gelegentlich auf die Nerven gehen! Geben Sie Ihnen ab und zu eine Gelegenheit, sich auszutoben, dann werden sich viele Probleme in Luft auflösen."

"Aha", erwiderte Myskiallen mit ätzendem Spott. "Wie lauten denn Ihre Vorschläge zu diesem Thema? Sollen wir Schwerter und Spieße verteilen und Kampfspiele veranstalten?"

Muß das unbedingt heute sein? dachte Jonna deprimiert. Dieser verdammte Kerl geht mir sowas von auf den Wecker...

"Natürlich nicht", sagte sie. "Aber Sie könnten mehr Traumzeit-Therapien bewilligen!"

"Das ist ein seltsamer Vorschlag! Haben Sie noch nicht mitgekriegt, daß wir schon jetzt Zehntausende von Jadrin-Süchtigen haben? Sie alle waren in der Traumzeit. Genau das hat sie in die Sucht hineingetrieben."

"Nein", sagte Jonna. "Nicht die Therapie führt zur Sucht, sondern die Art und Weise, wie Ihre Therapeuten dabei mit dem Jadrin umgehen. Erstens dosieren sie das Zeug viel zu hoch, zweitens brechen sie die Therapie zu früh ab - ihre Patienten kommen heraus, ehe sie sich ausreichend abreagiert haben. Kein Wunder, daß diese Leute dann losgehen und es auf eigene Faust versuchen! Drittens nehmen Ihre Therapeuten viele Probleme gar nicht erst zur Kenntnis. Wenn man aber die Auseinandersetzung mit einem Problem nicht zuläßt, kann man auch nicht erwarten, daß es gelöst wird."

"Das können Sie überhaupt nicht beurteilen!" knurrte Myskiallen wütend. "Was verstehen Sie schon von der Arbeit unserer Therapeuten! Sie sind Protektorin - kümmern Sie sich um Ihre Aufgaben!"

"Meine Aufgabe ist es, für die Sicherheit der Stadt zu sorgen", konterte Jonna. "Und wenn die Arbeitsweise Ihrer Leute zu einem Faktor wird, der diese Sicherheit bedroht, dann geht mich das sehr wohl etwas an!"

Dagegen konnte er wenig sagen. Aber natürlich wollte er sich nicht so schnell geschlagen geben - er mußte unbedingt weiter auf der Sache herumhacken.

"Wir müssen die Waffen aus der Stadt entfernen!" sagte er. "Alle Waffen!"

"Und wie stellen Sie sich das vor? Wollen Sie die Privaträume der Bürger filzen?"

"Warum nicht?" fragte Myskiallen herausfordernd.

"Und wonach genau wollen Sie suchen?"

"Sind Sie schwerhörig? Nach Waffen!"

"Darf ich fragen, wie Sie diesen Begriff definieren wollen?"

"Das dürfte doch wohl nicht weiter schwierig sein!" sagte Myskiallen verächtlich.

"Na schön", sagte Jonna. "Bei den Schußwaffen ist es tatsächlich einfach, da haben Sie recht. Aber wie ich bereits sagte: Solche Waffen sind verboten. Wir ziehen sie ein, wo immer sie auftauchen. Was also gedenken Sie in den Wohnungen der Bürger sonst noch alles einzukassieren?"

"Alles, was zum Töten dient!"

"Sie machen sich das sehr leicht!" warnte Jonna.

"Das denke ich nicht!" erwiderte Myskiallen. "Sie machen es sich leicht, indem Sie uns immer wieder mit diesem liberalen Quatsch kommen. Aber gerade in der vorigen Woche hat es in Camelot einen Mord gegeben. Haben Sie das mitgekriegt? Muß das sein? Wollen Sie gar nichts dagegen unternehmen?"

Jonna betrachtete ihn nachdenklich.

Bei der Nachbarschaftshilfe neigte man schon seit jeher dazu, die Bürger zu bevormunden, ihnen alles und jedes vorzuschreiben und sie zu zwingen, sich dem System in jeder Beziehung unterzuordnen. Hätte man Leute wie Myskiallen gewähren lassen, dann wären die Bewohner von Elcit innerhalb kürzester Zeit zur bloßen Biomasse verkommen.

"Die Leute brauchen ein bißchen Freiheit", sagte sie. "Stellen Sie sich doch bloß mal vor, was Sie alles konfiszieren müßten! All diese kostbaren Artefakten aus der Alten Zeit - es würde die Bürger auf die Barrikaden treiben!"

"Dann müssen wir sie von dort wieder herunterholen!"

"Mit Gewalt?"

"Wenn es nötig ist - ja!"

"Na gut", sagte Jonna. "Denken wir mal darüber nach, was man alles als Waffen verwenden kann. Es gibt Sportvereine, in denen die Bürger mit Pfeil und Bogen umgehen - man kann einen Menschen mit einem Pfeil erschießen. Oder ihn mit einer Gymnastikkeule erschlagen. Man kann ihn sogar mit der bloßen Faust umbringen. Was gedenken Sie mit den Kampfsportlern zu tun? Wollen Sie denen Hände und Füße abhacken?"

"Wir werden die Kampfschulen verbieten!" zischte Myskiallen ihr wütend ins Gesicht.

"Na schön, darüber könnte man zur Not noch diskutieren. Aber wenn ich Ihnen einen Stuhl heftig genug über den Schädel schlage, sind Sie hinüber. Wollen Sie den Gebrauch von Stühlen verbieten? Und was ist mit den Wänden? Wenn man jemanden hart genug mit dem Kopf gegen eine Wand stößt, wird er sterben. Wollen Sie alle Wände der Stadt einreißen?"

Myskiallen starrte sie an, sprachlos vor Wut.

"Bitte verstehen Sie mich nicht falsch", sagte Jonna. "Ich hasse Waffen, und ich hasse jede Art von Gewalt. Aber solange Menschen in dieser Stadt leben, wird es immer wieder Gewalttaten geben. Man kann sie einschränken, aber ganz und gar verhindern kann man sie nicht. Eine absolut gewaltfreie Welt ist eine unerfüllbare Utopie. Wenn Sie wirklich sichergehen wollen, daß nie wieder ein Mensch in dieser Stadt gewaltsam ums Leben kommt, müssen Sie die Bewohner samt und sonders vergiften. Die Gewalt kann man nicht verbieten - wir alle müssen einfach nur lernen, damit umzugehen! Sicher können Sie einen Menschen vor dem Ertrinken retten, indem sie ihn von jedem Schwimmbecken fernhalten, aber wesentlich besser ist es, ihn zu lehren, wie man schwimmt! Und was diesen Mord angeht, von dem sie vorhin sprachen - der Mörder hat sein Opfer mit einer Bettdecke erstickt. Wollen Sie den Leuten die Decken wegnehmen?"

Myskiallen starrte sie immer noch an. Sie wartete auf den Wutausbruch, der unweigerlich kommen mußte. Statt dessen begann er zu lachen.

"Jetzt haben Sie es mir aber ordentlich gegeben!" sagte er. "Ich hätte mich vorher wegen dieser Mordsache erkundigen sollen! Das war dumm von mir. - Was ist bloß los mit uns, Harper! Eigentlich stehen wir doch auf derselben Seite! Wir beide könnten uns ganz gut verstehen! Warum gehen wir vor dem Rat immer wieder aufeinander los?"

"Ich bin noch nie auf Sie losgegangen", stellte Jonna fest.

"Sie haben recht - ich bin derjenige, der anfängt."

Allmählich wurde ihr die Sache unheimlich. Was war mit Myskiallen passiert? Sein Verhalten war geradezu unnatürlich. In all den Jahren hatte sie ihn noch nie so friedfertig erlebt.

Zu ihrer eigenen Überraschung hörte sie sich sagen:

"Ich werde über die Sache mit Akira Ogawa nachdenken."

"Mehr kann ich nicht von ihnen verlangen", sagte Myskiallen.


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