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In der nördlichen Hemisphäre von Rigel VII gibt es eine
ganze Anzahl von Inseln, die direkt aus dem tiefen Meer
aufsteigen. Sie bestehen fast durchgehend aus schwarzem Basalt. Die Küsten
sind steil und zerklüftet. Finstere Fjorde reichen tief in das Landesinnere
hinein.
Im späten Frühling, wenn die Stürme sich legen, ziehen
rigellanische Tiefsee-Kraken an die Küsten und in die Fjorde dieser
Inseln. Sie steigen an den düsteren Ufern empor und verankern sich
dort dicht unter der Wasseroberfläche an den Felsen. Sie bleiben
dabei praktisch unsichtbar, denn sie sind genauso dunkel wie der Fels
und das Wasser.
Zu dieser Jahreszeit brüten in den Felswänden riesige
Schwärme von grauen Sturmseglern, rostfarbenen Rigel-
Schwalben, schwarzen Pfeiltauchern und anderen fliegenden Geschöpfen,
die alle miteinander ständig furchtbar hungrig sind. Und genau darum
geht es den rigellanischen Kraken.
Sie strecken dünne Tentakel bis zur Wasseroberfläche
hinauf. Die Enden dieser Tentakel entfalten sich zu flachen Gebilden,
die wie Seerosenblätter auf dem Wasser schwimmen, und auf der Oberseite
der Blätter befinden sich zahlreiche Auswüchse, die wie lauter
kleine, appetitliche Happen aussehen. Kommt nun ein hungriger Sturmsegler
oder ein anderes Tier auf die Idee, einen dieser Happen zu verspeisen,
dann schließt sich das Blatt blitzschnell, und der Krake zieht seine
Beute zu sich in das schwarze Wasser hinab.
Es konnte nicht ausbleiben, daß die Rigellaner auf die
Kraken und die Sushi-Blätter aufmerksam wurden. Die Jagd auf die
appetitlichen Happen erwies sich allerdings als sehr gefährlich,
denn die Kraken sind von beachtlicher Größe und äußerst
gefräßig. Da aber die Sushi-Blätter wirklich außerordentlich
lecker sind, ließen (und lassen) sich die Rigellaner durch nichts
und niemanden von der Jagd abhalten.
Im Laufe der Zeit haben sie eine ausgefeilte Technik
entwickelt. Sie betreiben die Sushi-Jagd stets zu zweit.
Der eine hat eine lange Stange, an deren Ende eine scharfe Klinge befestigt
ist. Die Stange kann bis zu zehn Meter lang sein. Es erfordert viel Kraft
und Geschicklichkeit, mit dieser Waffe
umzugehen, und der Rigellaner muß sich damit zwischen den schroffen,
glitschigen Uferfelsen bewegen.
Er pirscht sich so nahe wie möglich an das Sushi-Blatt heran. Vorsichtig
führt er die Klinge bis an das Blatt heran. Dabei muß er die
Lichtbrechung, den Stand der Sonne und viele andere Faktoren in Betracht
ziehen. Begeht er einen Fehler, dann sieht der Krake die Stange, und es
ist aus mit der Jagd.
Befindet sich der Rigellaner endlich in der richtigen Position, dann geht
alles blitzschnell: Die Klinge taucht zischend in das Wasser und schneidet
das Blatt vom Tentakel ab. Der Rigellaner zieht den Stab mit heftigem
Schwung zur Seite und schleudert die Beute damit in jene Richtung, in
der sein Jagdgefährte zwischen den Uferfelsen wartet. Dann ergreift
er schleunigst die Flucht.
Der zweite Rigellaner schnappt sich das Blatt und flüchtet ebenfalls,
so schnell er nur kann. Denn der Krake ist verständlicherweise sehr
wütend und kommt sofort die Felswand herauf. Seine Fangarme, bis
zu dreißig Meter lang, peitschen durch die Luft. Er packt, was immer
er erwischen kann, und zieht es zu sich herab. Manchmal kommt er sogar
aus dem Wasser heraus. Das ist dann normalerweise das Ende der Jagd -
für die Rigellaner.
Kommen beide Rigellaner ungeschoren davon, dann treffen sie sich hinter
den Felsen. Dort sitzen sie, umgeben von dem finsteren Gestein, umweht
von der Gischt, umschwärmt von den aufgeregten Flugwesen, teilen
sich die Beute und vertilgen sie an Ort und Stelle.
Rigellanisches Sushi kann man nicht kaufen. Es muß selbst erjagt
werden. Kein Rigellaner würde seine Beute jemals hergeben - um keinen
Preis der Welt. Und kein Rigellaner hätte etwas dagegen einzuwenden,
das ganze Blatt zu verspeisen, anstatt mit einem Jagdgefährten
teilen zu müssen.
Das mag einer der Gründe dafür sein, daß die
Rigellaner immer und überall vom unübertrefflichen
Wohlgeschmack der Sushi-Blätter schwärmen. Leider haben sie
damit auch oft genug Erfolg: Es findet sich immer wieder irgendein Schlaumeier,
der der Versuchung nicht widerstehen kann und sich tatsächlich eine
Chance
ausrechnet.
Rigellaner sind humanoid (wenn man mal von ein paar
Kleinigkeiten absieht), sehr groß und sehr schnell. Mit ihren langen
Beinen können sie sich erstaunlich flink zwischen den Felsen bewegen
- viel schneller, als beispielsweise ein Mensch es könnte.
Man wagt es in diplomatischen Kreisen nicht, die Dinge beim Namen zu nennen,
aber es ist eine traurige Tatsache, daß von einer gemischten Jagd
meistens nur einer der beiden Partner zurückkehrt, und das ist der
Rigellaner. Er wird dann zwar wortreich das Schicksal seines Jagdgefährten
betrauern, aber das dürfte alles nur Theater sein. Es gibt sogar
ziemlich deutliche Hinweise darauf, daß die Rigellaner sich nicht
immer auf ihre Überredungskunst verlassen, sondern ihre Opfer gelegentlich
sogar hypnotisieren und sie den Kraken ganz bewußt als Köder
vor die Nase setzen.
Es empfiehlt sich daher, Rigel VII rechtzeitig vor Beginn
der Jagdsaison zu verlassen, oder zu dieser Zeit auf einen Besuch ganz
und gar zu verzichten. Einige Botschaften sind bereits dazu übergegangen,
ihr gesamtes Personal während der Sushi-Saison von Rigel VII abzuziehen.
Was nun die Kraken angeht, so erleiden sie bei dieser Art
von Jagd keinen bleibenden Schaden. Es gibt sogar gewisse Anzeichen dafür,
daß die mächtigen Geschöpfe das Ganze ihrerseits auch
als eine Art von Jagd betrachten, und ihre Chancen auf Erfolg stehen gar
nicht mal so schlecht.
(© Marianne Sydow, 11.10.04)
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