Meine Weihnachtsgeschichte
   

Es war Weihnachten im Jahre 1971. Wir (mein Ex-Mann und ich) hatten der Großstadt Berlin (West) den Rücken gekehrt und waren aufs Land gezogen, nach Anhausen bei Augsburg, einem idyllischen Dorf am Ende eines kleinen Tales, umgeben von dicht bewaldeten Hügeln.

Heiligabend schneite es. Ohne störenden Wind tanzten die Flocken herab, groß und sanft, den ganzen Tag und den ganzen Abend hindurch. Erst in der Nacht hörte es auf.

Unsere Eltern wohnten in Berlin, und so gingen wir beide los, um von der dörflichen Telefonzelle aus unsere weihnachtlichen Pflicht-Anrufe zu erledigen, jeder einzeln, weil unsere Eltern sich untereinander nicht riechen konnten ("Fröhliche Weihnachten, ja, mir geht es gut, natürlich vermisse ich euch, ja, über die warmen Socken habe ich mich sehr gefreut, genau das, was ich jetzt brauche...").

Neben der Telefonzelle leuchtete eine Straßenlaterne über dem unberührten Schnee. Die Flocken glitzerten im hellen Licht. Das ganze Dorf lag still und friedlich unter seiner dicken, weißen Decke. Nichts rührte sich, kein Hund bellte, kein Mensch war zu sehen. Die meisten Dorfbewohner hatten ihr Weihnachtsfest schon hinter sich und würden erst zur Mitternachtsmesse wieder auftauchen. Bis dahin gehörte Anhausen ganz allein uns.

Schweigend, mit großen Augen, gingen wir durch diese verzauberte Wunderwelt. Uns war, als hätten wir nie im Leben so weißen Schnee gesehen. Das Licht der Straßenlaternen lockte uns immer weiter. Wir folgten ihm wie hypnotisiert, die Dorfstraße hinunter, an tief verschneiten Tannen vorbei, an Gartenzäunen entlang, die fast bis an die Spitzen im Schnee versunken waren.

Schließlich erreichten wir die Kirche, und dort, etwas nach rechts hinüber, sahen wir ein erleuchtetes Fenster - golden in der feierlichen, schneehellen Nacht - und im Näherkommen erkannten wir, daß das Fenster zu einem Stall gehörte.

Ward dort ein Kälbchen geboren an diesem heiligen Abend?

Wir pirschten uns vorsichtig an den Lattenzaun heran, bis zu den Knien im Schnee, leise, leise, daß uns bloß keiner hörte, und blickten gespannt auf das, was hinter dem Fenster war.

Und drinnen, im goldgelben Licht, saß ein Mann auf einem Schemel, die Hosenbeine aufgekrempelt, und wusch sich die Füße in einem Eimer mit Wasser.

Und so gingen wir wieder nach Hause, durch diese stille, leuchtende Nacht...

Eine wunderschöne Zeit wünsche ich euch allen! Möge das neue Jahr euch gut behandeln!


© Marianne Sydow, 24.12.2006

     
     
     
       
     
       
     
     
     
   
 
 
Fraktal-Graphiken
Meine Weihnachtsgeschichte Nummer 2 >   Nr. 3   Nr. 4
online-SF-Stories