Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 9:
Perle Nr. 1 / 1
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Ich sollte das hier beenden und schlafen gehen, dachte sie. Jetzt, sofort, auf der Stelle. Es ist genug für heute, wirklich und wahrhaftig - mehr als genug!

Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Aber prompt sah sie ein wüstes Gewimmel von Maden vor sich. Sie beschloß seufzend, noch einige Zeit wach zu bleiben.

Vielleicht war das der richtige Moment, sich eine von Ogawas Perlen zu Gemüte zu führen. Wenn die Dinger wirklich so gut waren, fegten sie vielleicht diese verdammten Bilder aus Jonnas Hirn. Endlich wieder einmal richtig schlafen, etwas Schönes träumen, ohne Maden, ohne Urnen, ohne diesen schrecklichen saugenden Moloch im Untergrund...

"Her mit der Perle Nummer eins!"

"Sie sollten das nicht tun", sagte das System.

"Wie bitte?"

"Sie sind müde und damit anfällig. Diese Perlen sind gefährlich!"


"Mir werden sie nichts tun", behauptete Jonna.

"Das ist nicht so sicher."


Und damit hatte das System durchaus recht. Alle Glasperlen enthielten Datensequenzen, die direkt auf das Unterbewußtsein einwirkten - Videodrogen. Das war ihr Geheimnis. Und gegen Videodrogen war auch Jonna nicht immun. Die psychoaktiven Sequenzen entstanden spontan als Abfallprodukte der komplizierten Rechenprozesse während der Produktion einer Perle. Normalerweise war der Perlenspieler selbst das erste Opfer: stieren Blicks hing er dann in seinem Cykon, unfähig, sich aus dem Bann der jungen Perle zu befreien.

"Hast du eine neue Sorte von Videodrogen in den Dingern gefunden?" fragte Jonna und wunderte sich darüber, daß sie nichts davon in den Berichten gesehen hatte.

"In Ogawas Perlen gibt es keine psychoaktiven Sequenzen", erwiderte das System.

"Gar keine?" fragte Jonna verdutzt.

"Gar keine!" bestätigte das System.

"Es gibt keine Perlen ohne Drogen!"

"Offensichtlich doch."

" Wie kommt es dann, daß die Leute so ausflippen?"

"Das weiß ich nicht. Das Verhalten der Konsumenten ist leider nicht einheitlich. Einige werden von den Perlen überhaupt nicht berührt. Andere reagieren sehr stark."

"Dann such dir ein paar Repräsentanten aus diesen beiden Gruppen heraus und gleiche ihre medizinischen Daten gegeneinander ab!"

"Das habe ich bereits getan. Ich habe viele verschiedene Gruppen zusammengestellt. Es gibt kein Muster, auf keinem einzigen Gebiet."

"Von wievielen Leuten reden wir da überhaupt? Die Perlen sind doch noch gar nicht so lange im Netz!"

"Ich habe über zwei Millionen Konsumenten gezählt."

Das war eine Menge. Die Dinger mußten es wirklich in sich haben.

"Bei zwei Millionen sollten sich allmählich ein paar Gemeinsamkeiten abzeichnen", sagte Jonna ungeduldig.

Das System schwieg.

"Ich werde mir jetzt eine dieser Perlen ansehen!" verkündete Jonna.
"Das ist mein Job. Versuch bloß nicht, mich daran zu hindern!"

Sie ließ den Comco eine Verbindung zum Perlendepot von Mittelerde herstellen und gab ihm die Anweisung, Perle Nummer Eins auf den Schirm zu holen. Der Comco war auch durchaus willens, das zu tun, aber die Leute von der Nachbarschaftshilfe hatten Ogawas Perlen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln abgesichert, um den Bürgern den Zugriff zu versperren. Jonna mußte eingreifen und die Hindernisse aus dem Weg räumen. Das war lästig und kostete Zeit. Um sich diese Prozedur für die Zukunft zu ersparen, ließ sie den Comco gleich die ganze Staffel speichern.

Woraufhin sich völlig überraschend schon wieder das System zu Wort meldete.

"Sie wollten nur die Perle Nummer 1 ansehen!" sagte es.

"Das stimmt."

"Sie haben aber auch die anderen gespeichert."

"Richtig. Hast du was dagegen?"

"Diese Perlen sind gefährlich!"

"Das sagtest du bereits - wortwörtlich. Was ist denn bloß los? Ich bin eine Protektorin. Du selbst hast mich dazu ernannt. Denkst du, ich wäre nicht einmal fähig, einer Perle zu widerstehen?"

"Diese Perlen sind etwas Besonderes!"

"Das habe ich mittlerweile auch schon begriffen. Es heißt, daß diese Perlen den Wunsch wecken, in die Außenwelt zu gehen. Nun - diesen Wunsch habe ich vierundzwanzig Stunden am Tag. Ogawas Perlen dürften es schwer haben, das noch zu steigern!"

Das schien dem System einzuleuchten, denn es meldete keine weiteren Bedenken an. Aber sein Verhalten bereitete Jonna trotzdem Kopfzerbrechen. Natürlich wachte es über alles, was in der Stadt geschah, aber normalerweise mischte es sich nicht ein - nicht in dieser Weise.

Man könnte ja glatt auf die Idee kommen, daß es mich permanent überwacht!
dachte Jonna.

Sie konnte Cheroux förmlich hören, wie er begann, über Wahnvorstellungen und Paranoia zu referieren.

Es hat etwas mit Ogawas Perlen zu tun, überlegte Jonna. Irgendwie hängt das alles zusammen.

Sie setzte sich vor das Fenster, lehnte sich zurück, die Hände hinter dem Nacken verschränkt, und versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Aber irgendwie landete sie immer wieder bei den Maden, bei Myskiallen und bei dessen hysterischem Gefolge - zum Teufel mit der ganzen Bande!

"Perle Nummer 1!" sagte sie in Richtung Comco.

Der Sessel traf Anstalten, sich zum Cykon zu entfalten.

"Laß das!" wies Jonna ihn ärgerlich zurecht. "Comco, gib mir die Perle aufs Fenster."

Außerhalb des Cykons und ohne dessen Unterstützung - s
o konnten Ogawas Perlen ihr sicher nichts anhaben.

Dachte sie.

Und irrte sich.


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