Ich sollte das hier beenden und schlafen gehen,
dachte sie. Jetzt, sofort, auf der Stelle.
Es
ist genug für heute, wirklich und wahrhaftig - mehr als genug!
Sie lehnte sich zurück und schloß die Augen. Aber prompt sah
sie ein wüstes Gewimmel von Maden vor sich. Sie beschloß seufzend,
noch einige Zeit wach zu bleiben.
Vielleicht war das der richtige Moment, sich eine von Ogawas Perlen zu
Gemüte zu führen. Wenn die Dinger wirklich so gut waren, fegten
sie vielleicht diese verdammten Bilder aus Jonnas Hirn. Endlich wieder
einmal richtig schlafen, etwas Schönes träumen, ohne Maden,
ohne Urnen, ohne diesen schrecklichen saugenden Moloch im Untergrund...
"Her mit der Perle Nummer eins!"
"Sie sollten das nicht tun", sagte das System.
"Wie bitte?"
"Sie sind müde und damit anfällig. Diese Perlen sind gefährlich!"
"Mir werden sie nichts tun", behauptete Jonna.
"Das ist nicht so sicher."
Und damit hatte das System durchaus recht. Alle Glasperlen enthielten
Datensequenzen, die direkt auf das Unterbewußtsein einwirkten -
Videodrogen. Das war ihr Geheimnis. Und gegen Videodrogen war auch Jonna
nicht immun. Die psychoaktiven Sequenzen entstanden
spontan als Abfallprodukte der komplizierten Rechenprozesse während
der Produktion einer Perle. Normalerweise war der Perlenspieler selbst
das erste Opfer: stieren Blicks hing er dann in seinem Cykon,
unfähig, sich aus dem Bann der jungen Perle zu befreien.
"Hast du eine neue Sorte von Videodrogen in den Dingern gefunden?"
fragte Jonna und wunderte sich darüber, daß sie nichts davon
in den Berichten gesehen hatte.
"In Ogawas Perlen gibt es keine psychoaktiven Sequenzen", erwiderte
das System.
"Gar keine?" fragte Jonna verdutzt.
"Gar keine!" bestätigte das System.
"Es gibt keine Perlen ohne Drogen!"
"Offensichtlich doch."
" Wie kommt es dann, daß die Leute so ausflippen?"
"Das weiß ich nicht. Das Verhalten der Konsumenten ist leider
nicht einheitlich. Einige werden von den Perlen überhaupt nicht berührt.
Andere reagieren sehr stark."
"Dann such dir ein paar Repräsentanten aus diesen beiden Gruppen
heraus und gleiche ihre medizinischen Daten gegeneinander ab!"
"Das habe ich bereits getan. Ich habe viele verschiedene Gruppen
zusammengestellt. Es gibt kein Muster, auf keinem einzigen Gebiet."
"Von wievielen Leuten reden wir da überhaupt? Die Perlen sind
doch noch gar nicht so lange im Netz!"
"Ich habe über zwei Millionen Konsumenten gezählt."
Das war eine Menge. Die Dinger mußten es wirklich in sich haben.
"Bei zwei Millionen sollten sich allmählich ein paar Gemeinsamkeiten
abzeichnen", sagte Jonna ungeduldig.
Das System schwieg.
"Ich werde mir jetzt eine dieser Perlen ansehen!" verkündete
Jonna. "Das ist mein Job. Versuch bloß nicht, mich
daran zu hindern!"
Sie ließ den Comco eine Verbindung zum Perlendepot von Mittelerde
herstellen und gab ihm die Anweisung, Perle Nummer Eins auf den Schirm
zu holen. Der Comco war auch durchaus willens, das zu tun, aber die Leute
von der Nachbarschaftshilfe hatten Ogawas Perlen mit allen ihnen zur Verfügung
stehenden Mitteln abgesichert, um den Bürgern den Zugriff zu versperren.
Jonna mußte eingreifen und die Hindernisse aus dem Weg räumen.
Das war lästig und kostete Zeit. Um sich diese Prozedur für
die Zukunft zu ersparen, ließ sie den Comco gleich die ganze Staffel
speichern.
Woraufhin sich völlig überraschend schon wieder das System zu
Wort meldete.
"Sie wollten nur die Perle Nummer 1 ansehen!" sagte es.
"Das stimmt."
"Sie haben aber auch die anderen gespeichert."
"Richtig. Hast du was dagegen?"
"Diese Perlen sind gefährlich!"
"Das sagtest du bereits - wortwörtlich. Was ist denn bloß
los? Ich bin eine Protektorin. Du selbst hast mich dazu ernannt. Denkst
du, ich wäre nicht einmal fähig, einer Perle zu widerstehen?"
"Diese Perlen sind etwas Besonderes!"
"Das habe ich mittlerweile auch schon begriffen. Es heißt,
daß diese Perlen den Wunsch wecken, in die Außenwelt zu gehen.
Nun - diesen Wunsch habe ich vierundzwanzig Stunden am Tag. Ogawas Perlen
dürften es schwer haben, das noch zu steigern!"
Das
schien dem System einzuleuchten, denn es meldete keine weiteren Bedenken
an. Aber sein Verhalten bereitete Jonna trotzdem Kopfzerbrechen. Natürlich
wachte es über alles, was in der Stadt geschah, aber normalerweise
mischte es sich nicht ein - nicht in dieser Weise.
Man könnte ja glatt auf die Idee kommen, daß es mich permanent
überwacht! dachte Jonna.
Sie konnte Cheroux förmlich hören, wie er begann, über
Wahnvorstellungen und Paranoia zu referieren.
Es hat etwas mit Ogawas Perlen zu tun, überlegte
Jonna. Irgendwie hängt das alles zusammen.
Sie
setzte sich vor das Fenster, lehnte sich zurück, die Hände hinter
dem Nacken verschränkt, und versuchte, Ordnung in ihre Gedanken zu
bringen. Aber irgendwie landete sie immer wieder bei den Maden, bei Myskiallen
und bei dessen hysterischem Gefolge - zum Teufel mit der ganzen Bande!
"Perle Nummer 1!" sagte sie in Richtung Comco.
Der Sessel traf Anstalten, sich zum Cykon zu entfalten.
"Laß das!" wies Jonna ihn ärgerlich zurecht. "Comco,
gib mir die Perle aufs Fenster."
Außerhalb des Cykons und ohne dessen Unterstützung - so
konnten Ogawas Perlen ihr sicher nichts anhaben.
Dachte sie.
Und irrte sich.
<-
eins zurück ->
weiter:
Zurück
zur Kapitel-Übersicht
|
|
|
|