Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 5:
In der Außenwelt / 2
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Sie arbeitete schnell und konzentriert und achtete darauf, daß keine Insekten in den Sack gelangten. Die Art der Fundstücke dagegen interessierte sie im Augenblick wenig. Bis sie auf eine kleine, flache Dose stieß - eine Dose aus Metall, mit einem gläsernen Deckel, unter dem sich ein Zeiger zitternd bewegte: Ein Kompaß.

Es war ein kleines, billiges Ding, alt und abgeschabt, aber als Überbleibsel einer längst vergangenen Zeit zumindest unter Sammlern von einigem Wert.

Was tat ein Stadtmensch mit einem Kompaß in der Außenwelt?

Jonna erinnerte sich plötzlich an ein Stück Folie, das sie kurz zuvor aufgehoben hatte.

Die Folie war schmutzig gewesen.

Und leer.

Oder etwa nicht?

Du Trottel hast nicht auf die Rückseite gesehen!

Sie öffnete den Plastiksack, spähte hinein, konnte nicht entdecken, wonach sie suchte, und kippte kurz entschlossen den ganzen Krempel aus.

Da war sie, die Folie, und - ganz recht - die eine Seite war schmutzig und leer. Aber auf der anderen befand sich ein Netz aus Linien und farbigen Flächen. Es war unverkennbar ein Stück von einem Stadtplan.

Das wird ja immer besser! Vorräte, Schutzanzug, eine Waffe, Kompaß, Stadtplan - was denn noch?

Quer über den Stadtplan zog sich eine schwarze Linie. Diese Linie wirkte ein wenig unregelmäßig, an manchen Stellen fast krakelig, als hätte jemand nachträglich von Hand einen Weg eingezeichnet. Und dieser Weg begann am Portal. Nahe dem rechten Rand der Folie führte er über einen runden Platz und streifte dort ein Zeichen, ein Piktogramm.

Das Denkmal! dachte Jonna. Der Reiter auf dem Pferd!

Es schien, als hätte der Ausreißer haargenau gewußt, wie man mit einem Kompaß und einem Stadtplan umgehen mußte.

Dieser Mann ist nicht einfach nur zufällig in Richtung Osten gegangen, aus purer Sturheit, weil er den einmal gewählten Kurs nicht ändern wollte. Er hatte ein konkretes Ziel!

Jonna hatte Erfahrung mit Ausreißern - mehr als ihr lieb war. Das mit Abstand häufigste Motiv für die meist tödlich endenden Ausflüge in die Außenwelt war die Gier nach Schätzen. Aus Beschreibungen, Filmen, Dokumentationen, Katalogen und ähnlichen Quellen konnte man Rückschlüsse ziehen auf die möglichen Fundorte von allerlei interessanten Dingen. Aber selbst die mutigsten Schatzsucher suchten sich nahegelegene Ziele aus.

In Mittelerde und Lothlorien reichte die alte Stadt fast bis an die Schleusen heran. Dort gab es auch Gebäude, die noch relativ gut erhalten waren, darunter ein Museum und mehrere sogenannte Warenhäuser, in denen man geradezu sagenhafte Reichtümer vermutete. Jonna hatte schon über zwei Dutzend Leute dort herausgeholt. Sie kämpfte seit Jahren mit dem System um die Erlaubnis, systematische Nachforschungen in den entsprechenden Gebäuden anstellen zu dürfen. Ihr Argument: wenn sie sicherstellte, was von Wert war, und den Rest mit abschreckenden Aufnahmen dokumentierte, würden ihr vielleicht einige Tragödien erspart bleiben. Aber das System wollte davon nichts wissen.

Was kann ihn bloß nach Osten gelockt haben? überlegte sie. Und warum hat er sich so weit von der Stadt entfernt?

Die Kreuzung, auf der es den Ausreißer erwischt hatte, war ebenfalls auf der Karte verzeichnet, lag aber am äußersten Rand der Folie. Falls die krakelige Linie wirklich einen Weg darstellen sollte, so führte er über diesen Rand hinaus.

Es muß ein zweites Blatt geben, eine Anschlußseite. Wenn ich Glück habe und sie finde, und sein Ziel ist darauf eingezeichnet...

Eine Fliege landete auf der Folie. Ihr Bauch war dick und rund und gelblich von den Eiern, die sie in sich trug. Ihr Erscheinen erinnerte Jonna daran, daß sie sich besser beeilen sollte.

Sie schüttelte das Tier von der Karte hinunter, ließ den Scanner eine Aufnahme von dem Stadtplan machen und steckte die Folie in einen separaten Plastiksack, in dem sie bereits die Waffe, die Munitionsreste und den Kompaß verstaut hatte.

Sie las den Rest der herumliegenden Gegenstände auf. Das Anschlußblatt fand sie dabei nicht.

Vielleicht liegt sein Ziel ganz in der Nähe, gleich hinter der nächsten Trümmerhalde. Möglicherweise ist es sogar etwas, daß ich erkennen würde.

Es gab hier draußen seltsame Dinge. Manchmal waren einzelne Gebäude wie durch ein Wunder mehr oder weniger unversehrt geblieben.

Jonna sah nach dem Stand der Sonne und kam zu dem Schluß, daß sie noch eine halbe Stunde erübrigen konnte. Sie nahm das Fernglas mit, überquerte die Kreuzung und folgte der nach Osten führenden Straße. Ihr Schatten wanderte lang und schmal vor ihr her.

Nach einigen Minuten kam sie an eine Stelle, an der eine Schutthalde die Straße vollständig unter sich begraben hatte. Die Halde war mindestens zwanzig Meter hoch und sehr lang. Es mußte ein ziemlich großes Gebäude gewesen sein, das hier in sich zusammengefallen war, eines mit vielen Fenstern, denn zwischen den Trümmern steckten unzählige Glasscherben. Sie reflektierten das Licht der tiefstehenden Sonne in Tausenden von grellen Lichtblitzen.

Nach kurzem Zögern stieg Jonna über die Trümmerbrocken hinauf, um von oben Ausschau zu halten. Oben angekommen, ging sie hastig in Deckung: auf der nächsten Kreuzung, höchstens zweihundert Meter entfernt, bewegte sich etwas.

Sie kauerte sich hinter den Kamm der Halde und blickte durch das Fernglas. Zu ihrer Überraschung sah sie Menschen auf der Kreuzung - Außenweltler, mindestens dreißig an der Zahl. Jonna beobachtete sie fasziniert. Sie hatte nie zuvor welche gesehen.

Nach den Aufzeichnungen früherer Protektoren waren die Außenweltler durchweg krank, von genetischen Schäden gezeichnet, verstümmelt und verkrüppelt und obendrein grundsätzlich am Verhungern. Die Leute auf der Kreuzung schienen sich jedoch bester Gesundheit zu erfreuen. Sie waren sogar recht gut genährt und bunt gekleidet. Alle, auch die Kinder, trugen breitkrempige Hüte. Einige schleppten darüber hinaus große, bunte Schirme mit sich herum, vermutlich als Schutz vor der UV-Strahlung.

Und das bedeutete, daß sie offenbar nicht ganz so unwissend waren, wie sie es den Berichten zufolge sein sollten.

In der Mitte der Kreuzung gab es eine ausgedehnte Pfütze. An deren Rand kauerten sich einige der Außenweltler nieder, schöpften Wasser mit Hilfe kleiner, flacher Schalen und gossen es in Behälter, über deren Öffnungen sie Tücher gebunden hatten - sie schienen gewisse Vorstellungen von Hygiene zu haben. Die anderen pflückten Blätter, Halme und Blüten. Sie machten dabei nicht den Eindruck, als gingen sie einer anstrengenden Arbeit nach. Wenn das ihre Art des Nahrungserwerbs war, so handelte es sich dabei um eine eher beiläufig betriebene Angelegenheit.

Nach ungefähr zehn Minuten waren die Wasserbehälter gefüllt. Die Außenweltler verließen die Kreuzung und zogen in Richtung Süden davon.

Jonna fühlte sich nicht besonders wohl bei dem Gedanken, wie nahe diese Leute ihr waren. Außenweltler waren gefährlich, das wußte sie. Im Süden der Stadt, in der Nähe von Avalon, hatte sich vor zwei Jahren ein Stamm herumgetrieben. Denen war ein Ausreißer in die Hände gefallen. Jonna hatte nur noch seine Knochen vorgefunden, säuberlich abgenagt und aufgebrochen, rund um die Überreste eines Lagerfeuers verstreut.

Sie kletterte vorsichtig die Halde hinab, kehrte zur Kreuzung zurück und sammelte die restlichen Besitztümer des Ausreißers ein. Dann stieg sie in einen Schutzanzug, warf ein großes Stück Folie über den Toten und machte sich an das grausige Werk, ihn für die Rückführung zu verpacken. Ein gewaltiger Schwarm von Fliegen erhob sich mit wütendem Gebrumm und senkte sich wie eine Wolke auf sie herab.


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