Sie arbeitete schnell und konzentriert und achtete darauf, daß keine
Insekten in den Sack gelangten. Die Art der Fundstücke dagegen interessierte
sie im Augenblick wenig. Bis sie auf eine kleine, flache Dose stieß
- eine Dose aus Metall, mit einem gläsernen Deckel, unter dem sich
ein Zeiger zitternd bewegte: Ein Kompaß.
Es war ein kleines, billiges Ding, alt und abgeschabt, aber als Überbleibsel
einer längst vergangenen Zeit zumindest unter Sammlern von einigem
Wert.
Was tat ein Stadtmensch mit einem Kompaß in der Außenwelt?
Jonna erinnerte sich plötzlich an ein Stück Folie, das sie kurz
zuvor aufgehoben hatte.
Die Folie war schmutzig gewesen.
Und leer.
Oder etwa nicht?
Du Trottel hast nicht auf die Rückseite gesehen!
Sie öffnete den Plastiksack, spähte hinein, konnte nicht entdecken,
wonach sie suchte, und kippte kurz entschlossen den ganzen Krempel aus.
Da war sie, die Folie, und - ganz recht - die eine Seite war schmutzig
und leer. Aber auf der anderen befand sich ein Netz aus Linien und farbigen
Flächen. Es war unverkennbar ein Stück von einem Stadtplan.
Das wird ja immer besser! Vorräte, Schutzanzug,
eine Waffe, Kompaß, Stadtplan - was denn noch?
Quer über den Stadtplan zog sich eine schwarze Linie. Diese Linie
wirkte ein wenig unregelmäßig, an manchen Stellen fast krakelig,
als hätte jemand nachträglich von Hand einen Weg eingezeichnet.
Und dieser Weg begann am Portal. Nahe dem rechten Rand der Folie führte
er über einen runden Platz und streifte dort ein Zeichen, ein Piktogramm.
Das Denkmal! dachte Jonna. Der
Reiter auf dem Pferd!
Es schien, als hätte der Ausreißer haargenau gewußt,
wie man mit einem Kompaß und einem Stadtplan umgehen mußte.
Dieser Mann ist nicht einfach nur zufällig
in Richtung Osten gegangen, aus purer Sturheit, weil er den einmal gewählten
Kurs nicht ändern wollte. Er hatte ein konkretes Ziel!
Jonna hatte Erfahrung mit Ausreißern - mehr als ihr lieb war. Das
mit Abstand häufigste Motiv für die meist tödlich endenden
Ausflüge in die Außenwelt war die Gier nach Schätzen.
Aus Beschreibungen, Filmen, Dokumentationen, Katalogen und ähnlichen
Quellen konnte man Rückschlüsse ziehen auf die möglichen
Fundorte von allerlei interessanten Dingen. Aber selbst die mutigsten
Schatzsucher suchten sich nahegelegene Ziele aus.
In Mittelerde und Lothlorien reichte die alte Stadt fast bis an die Schleusen
heran. Dort gab es auch Gebäude, die noch relativ gut erhalten waren,
darunter ein Museum und mehrere sogenannte Warenhäuser, in denen
man geradezu sagenhafte Reichtümer vermutete. Jonna hatte schon über
zwei Dutzend Leute dort herausgeholt. Sie kämpfte seit Jahren mit
dem System um die Erlaubnis, systematische Nachforschungen in den entsprechenden
Gebäuden anstellen zu dürfen. Ihr Argument: wenn sie sicherstellte,
was von Wert war, und den Rest mit abschreckenden Aufnahmen dokumentierte,
würden ihr vielleicht einige Tragödien erspart bleiben. Aber
das System wollte davon nichts wissen.
Was kann ihn bloß nach Osten gelockt haben?
überlegte sie. Und warum hat er sich
so weit von der Stadt entfernt?
Die Kreuzung, auf der es den Ausreißer erwischt hatte, war ebenfalls
auf der Karte verzeichnet, lag aber am äußersten Rand der Folie.
Falls die krakelige Linie wirklich einen Weg darstellen sollte, so führte
er über diesen Rand hinaus.
Es muß ein zweites Blatt geben, eine Anschlußseite.
Wenn ich Glück habe und sie finde, und sein Ziel ist darauf eingezeichnet...
Eine Fliege landete auf der Folie. Ihr Bauch war dick und rund und gelblich
von den Eiern, die sie in sich trug. Ihr Erscheinen erinnerte Jonna daran,
daß sie sich besser beeilen sollte.
Sie schüttelte das Tier von der Karte hinunter, ließ den Scanner
eine Aufnahme von dem Stadtplan machen und steckte die Folie in einen
separaten Plastiksack, in dem sie bereits die Waffe, die Munitionsreste
und den Kompaß verstaut hatte.
Sie las den Rest der herumliegenden Gegenstände auf. Das Anschlußblatt
fand sie dabei nicht.
Vielleicht liegt sein Ziel ganz in der Nähe,
gleich hinter der nächsten Trümmerhalde. Möglicherweise
ist es sogar etwas, daß ich erkennen würde.
Es gab hier draußen seltsame Dinge. Manchmal waren einzelne Gebäude
wie durch ein Wunder mehr oder weniger unversehrt geblieben.
Jonna sah nach dem Stand der Sonne und kam zu dem Schluß, daß
sie noch eine halbe Stunde erübrigen konnte. Sie nahm das Fernglas
mit, überquerte die Kreuzung und folgte der nach Osten führenden
Straße. Ihr Schatten wanderte lang und schmal vor ihr her.
Nach einigen Minuten kam sie an eine Stelle, an der eine Schutthalde die
Straße vollständig unter sich begraben hatte. Die Halde war
mindestens zwanzig Meter hoch und sehr lang. Es mußte ein ziemlich
großes Gebäude gewesen sein, das hier in sich zusammengefallen
war, eines mit vielen Fenstern, denn zwischen den Trümmern steckten
unzählige Glasscherben. Sie reflektierten das Licht der tiefstehenden
Sonne in Tausenden von grellen Lichtblitzen.
Nach kurzem Zögern stieg Jonna über die Trümmerbrocken
hinauf, um von oben Ausschau zu halten. Oben angekommen, ging sie hastig
in Deckung: auf der nächsten Kreuzung, höchstens zweihundert
Meter entfernt, bewegte sich etwas.
Sie kauerte sich hinter den Kamm der Halde und blickte durch das Fernglas.
Zu ihrer Überraschung sah sie Menschen auf der Kreuzung - Außenweltler,
mindestens dreißig an der Zahl. Jonna beobachtete sie fasziniert.
Sie hatte nie zuvor welche gesehen.
Nach den Aufzeichnungen früherer Protektoren waren die Außenweltler
durchweg krank, von genetischen Schäden gezeichnet, verstümmelt
und verkrüppelt und obendrein grundsätzlich am Verhungern. Die
Leute auf der Kreuzung schienen sich jedoch bester Gesundheit zu erfreuen.
Sie waren sogar recht gut genährt und bunt gekleidet. Alle, auch
die Kinder, trugen breitkrempige Hüte. Einige schleppten darüber
hinaus große, bunte Schirme mit sich herum, vermutlich als Schutz
vor der UV-Strahlung.
Und das bedeutete, daß sie offenbar nicht ganz so unwissend waren,
wie sie es den Berichten zufolge sein sollten.
In der Mitte der Kreuzung gab es eine ausgedehnte Pfütze. An deren
Rand kauerten sich einige der Außenweltler nieder, schöpften
Wasser mit Hilfe kleiner, flacher Schalen und gossen es in Behälter,
über deren Öffnungen sie Tücher gebunden hatten - sie schienen
gewisse Vorstellungen von Hygiene zu haben. Die anderen pflückten
Blätter, Halme und Blüten. Sie machten dabei nicht den Eindruck,
als gingen sie einer anstrengenden Arbeit nach. Wenn das ihre Art des
Nahrungserwerbs war, so handelte es sich dabei um eine eher beiläufig
betriebene Angelegenheit.
Nach ungefähr zehn Minuten waren die Wasserbehälter gefüllt.
Die Außenweltler verließen die Kreuzung und zogen in Richtung
Süden davon.
Jonna fühlte sich nicht besonders wohl bei dem Gedanken, wie nahe
diese Leute ihr waren. Außenweltler waren gefährlich, das wußte
sie. Im Süden der Stadt, in der Nähe von Avalon, hatte sich
vor zwei Jahren ein Stamm herumgetrieben. Denen war ein Ausreißer
in die Hände gefallen. Jonna hatte nur noch seine Knochen vorgefunden,
säuberlich abgenagt und aufgebrochen, rund um die Überreste
eines Lagerfeuers verstreut.
Sie kletterte vorsichtig die Halde hinab, kehrte zur Kreuzung zurück
und sammelte die restlichen Besitztümer des Ausreißers ein.
Dann stieg sie in einen Schutzanzug, warf ein großes Stück
Folie über den Toten und machte sich an das grausige Werk, ihn für
die Rückführung zu verpacken. Ein gewaltiger Schwarm von Fliegen
erhob sich mit wütendem Gebrumm und senkte sich wie eine Wolke auf
sie herab.
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