Sie kehrte in die Haupthalle zurück, stieg in einen der alten Röhrenlifts
und ließ sich von ihm zur obersten Galerie hinauftragen - eine etwas
unheimliche Fahrt durch das Halbdunkel, hinauf in einen ehemaligen Empfangsraum,
in dem außer einem einzigen Schleusensegment nichts mehr zu funktionieren
schien.
Das Dach des Portals hatte einst als Landeplattform gedient. Jetzt strich
nur noch der Wind über die Fläche hin und trieb lange Staubfahnen
vor sich her. Der Boden vor der Schleuse war mit schwärzlichen Mooskrusten
bedeckt. Sie waren von der Sonne gedörrt und spröde wie Glas.
Knirschend und krachend zerbrachen sie unter Jonnas Schuhen - ein schreckliches
Geräusch, laut und aggressiv in der Stille der Außenwelt. Weiter
draußen war der Boden leer und kahl, blankgefegt vom Wind. An manchen
Stellen ließen sich noch Reste der früheren Bemalung erkennen:
Teile von Kreisen und Strichen, von Pfeilen, Zahlen, Buchstaben, Piktogrammen.
Am östlichen Rand der Plattform blieb Jonna stehen, direkt an der
Kante, nur eine winzige Gleichgewichtsstörung vom sicheren Tod entfernt,
atemlos angesichts dessen, was vor ihr lag. Sie fühlte sich euphorisch,
fast schwebend in dieser duftenden Helligkeit. Die Sonne brannte auf sie
herab, der Wind zerzauste ihr das Haar, und ihre Augen tränten in
der hitzeflimmernden Helligkeit.
Sie fühlte sich in ihre Kindheit zurückversetzt. Sie glaubte,
Cheroux' Stimme zu hören:
Was hast du gefühlt, als du allein dort draußen
warst? Hattest du Angst?
Nein.
Was dann?
Ich fühlte mich frei.
Frei - als könnte sie fliegen.
Die neun Pyramiden von Elcit bildeten in ihrer Gesamtheit ein gigantisches
Quadrat, dessen Ecken nach Norden, Osten, Süden und Westen zeigten.
Jonna befand sich am östlichsten Punkt der Stadt. Shangrilah ragte
hinter ihr auf wie ein riesiges Riff oder wie der Bug eines Schiffes,
und vor ihr lag eine Welt voller Duft und Sonnenschein, blau und grün
und golden - eine unfaßbare Weite unter einem grellen, gleißenden
Himmel.
Das hier draußen war eine Welt ohne Grenzen: kein Dach über
Jonnas Kopf, keine Wände um sie herum, nicht einmal eine schmale
Brüstung zu ihren Füßen. Tief unter ihr lagen die ehemaligen
Park- und Landeplätze, die Frachtrampen und Ladezonen. Dahinter begann
ein schier unendlich weites Trümmerfeld - die Alte Stadt. Zur Linken
schlängelte sich ein Fluß durch die Ruinen, ein glitzerndes
Band, in unregelmäßigen Abständen unterbrochen von den
Überresten geborstener Brücken, und ganz weit draußen,
am östlichen Horizont, zeichneten sich schemenhaft die Umrisse einer
Hügelkette ab, blaßblau im Dunst der Ferne.
Wo bist du mit deinen Gedanken, Jonna?
Glaubst du, daß ich da draußen leben könnte, Jean?
Für kurze Zeit - vielleicht. Für immer - nein.
Vielleicht doch. Ich fühle mich wohl in der Außenwelt.
Das will ich hoffen. Du wirst eine ausgezeichnete Protektorin abgeben,
wenn du so weitermachst. Aber du solltest es nicht übertreiben. Du
hättest dort draußen niemanden, mit dem du reden könntest.
Du wärst ganz allein. Glaubst du, daß du das könntest:
ganz allein in dieser Einsamkeit leben?
Ich könnte zu den Außenweltlern gehen.
Ja, das könntest du. Sie würden dich sicher mögen - besonders
mit Soße und Brot.
Widerstrebend kehrte Jonna in die Realität zurück.
Langsam ging sie am Rand der Plattform entlang, bis sie direkt über
der Hauptschleuse stand, und jetzt, von oben, erkannte sie eine dünne
Linie, die sich durch das Gras zog, geradewegs nach Osten.
Sie umrundete die ganze Plattform, immer in der Hoffnung, noch eine zweite
Fährte zu entdecken - Hinweis darauf, daß die Spur aller Wahrscheinlichkeit
zum Trotz doch nicht von einem Ausreißer stammte. Vielleicht war
nur etwas aus den Ruinen herüber gekommen, bis zum Fuß der
Pyramide gegangen und dann wieder in die Alte Stadt zurückgekehrt.
Es gab alles mögliche dort draußen. Hunde zum Beispiel, Schweine,
Außenweltler.
Aber da war nur diese eine Fährte, die am Portal begann und in Richtung
Stadt führte.
Ich könnte sagen, daß ich nichts gefunden
habe. Wer sollte das nachprüfen? Es ist doch sowieso schon viel zu
spät!
Die Spur war um die drei Tage alt. Ob mit oder ohne Schutzanzug: Kein
Stadtmensch konnte einen so langen Aufenthalt in der Außenwelt überleben.
Bedrückt ließ Jonna den Scanner ein paar Aufnahmen machen.
Sie verließ das Portal, nahm Verbindung zum System auf und übermittelte
ihm die im Scanner gespeicherten Bilder. Das System analysierte die Fährte
im Gras anhand der Aufnahmen und verkündete, was Jonna längst
wußte:
"Sie stammt von einem Menschen."
Jonna wartete ergeben auf das, was jetzt kommen mußte.
Sie haßte Rückhol-Aktionen - sie haßte sie mehr als alles
andere auf der Welt. Sie haßte das, was sie dabei sehen, riechen
und berühren mußte, und sie haßte den Kummer und das
Leid, mit dem sie sich hinterher herumzuschlagen hatte, weil es nicht
reichte, einen Ausreißer einfach nur heimzuholen: Genauso wichtig
war es, herauszufinden, was ihn dazu veranlaßt hatte, sich aus der
Geborgenheit des Systems zu entfernen. Je gründlicher man über
die mitunter absonderlichen Motive der Ausreißer Bescheid wußte,
desto besser konnte man weiteren Fällen vorbeugen.
Das System benötigte ungewöhnlich viel Zeit, um zu einer Entscheidung
zu kommen. Jonna fragte sich nervös, warum es so lange zögerte.
Stellte es weitere Nachforschungen an? Dachte es darüber nach, ob
es sinnvoll war, die Protektorin Jonna Harper gerade jetzt, müde
wie sie war, in einer derart heiklen Mission in die Hitze hinauszujagen?
Nahm es vielleicht sogar Verbindung zu Jean Cheroux auf, um sich nach
dessen Meinung zu erkundigen?
Nichts von alledem schien zuzutreffen, denn schließlich sagte das
System:
"Ich erteile Ihnen hiermit einen offiziellen Rückholauftrag.
Ich wünsche Ihnen viel Glück!"
"Danke!" sagte Jonna sarkastisch. "Vielen herzlichen Dank!
Ohne dich wüßte ich wirklich nicht, was ich mit meiner Zeit
anfangen sollte!"
Sie rief in der Außendienstzentrale von Shangrilah an und veranlaßte
alles Nötige. Die Spuren in der Schleuse (so es denn noch welche
gab) mußten gesichert und ausgewertet werden, sämtliche Zugänge
zum Portal waren reif für eine Inspektion, und natürlich mußte
man auch die Schleuse selbst untersuchen und gegebenenfalls versiegeln,
und...
"... und ich brauche einen Transporter!"
"Im Portal und in dessen Nähe gibt es keine Solarmobile."
"Warum nicht?" fragte Jonna überrascht.
"Keine Ahnung. Da müssen Sie Maynard fragen."
Jonna hatte wenig Lust, sich gerade jetzt mit dem obersten Schleusenmeister
von Shangrilah herumzustreiten - er war kein sehr umgänglicher Typ.
"Wie sieht es in den anderen Schleusen aus?" fragte sie.
"Shangrilah-West ist die einzige, in der Solarmobile stehen."
"Sie sind verpflichtet, Transporter für Notfälle bereitzustellen",
stellte Jonna ärgerlich fest. "Und zwar in allen
Schleusenkomplexen!"
"Erzählen Sie das Maynard! Wenn Sie einen Transporter haben
wollen, müssen Sie sowieso mit ihm reden. Ohne seine ausdrückliche
Genehmigung darf keiner von uns ein Fahrzeug herausrücken."
"Und wo finde ich Maynard?"
"In Shangrilah-West."
Das war am entgegengesetzten Ende der riesigen Elcit-Pyramide, fast sechs
Kilometer vom Portal entfernt. Jonna dachte voller Unbehagen an die Zeit,
die dieser Umweg sie kosten würde, an die Verhältnisse in der
Außenwelt, an die Hitze, an die Fliegen und an die Sonne, die schon
bedenklich hoch am Himmel stand.
"Sagen Sie Maynard, daß ich auf dem Weg zu ihm bin", befahl
sie. "Und richten Sie ihm aus, daß ich es eilig habe!"
Gleich um die Ecke gab es eine Sani-Station. Neben dem Eingang stand die
übliche Kollektion von Rollis. Sie waren klein, wendig, individuell
- das in der Stadt allgemein übliche Transportmittel, nicht nur für
jene, die schlecht zu Fuß waren, sondern vor allem für alle,
die es eilig hatten. Mit einem Rollstuhl kam man in Elcit überall
hin.
Jonna schaltete ihr Gefährt auf Automatik und nannte ihm das Ziel
der Fahrt. Der Rolli - vom System gelotst - kurvte behende durch den Blauen
Sektor, bog dann auf die Ost-West-Diagonale ein und sauste in Richtung
West-Schleuse davon.
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