Normalerweise hätte das seine Rettung sein sollen. Ein Urnenfeld
war das beste Versteck, das man finden konnte, wenn man per Cykon unterwegs
war.
Die früher sprichwörtliche Friedhofsruhe war in Elcit völlig
unbekannt. Die Bürger hatten ein sehr lebendiges Verhältnis
zu ihren Toten. Sämtliche Vorfahren bis zu den fernsten Ahnen hinab
wurden in das gesellschaftliche Leben einbezogen. Zu jeder Tages- und
Nachtzeit fanden auf den Friedhöfen Familienfeste statt. Scharen
von Forschern gingen in den Urnen ein und aus, und die Historiker waren
meistens gleich rudelweise unterwegs. Darüber hinaus gab es Hunderttausende
von Quellentauchern und anderen Schatzsuchern, die mehr oder weniger offen
ihre Claims absteckten oder gar heimlich an den tieferen Schichten der
Grüfte herumkratzten - oft genug Anlaß für Aufruhr und
Alarm. Wer sich verstecken mußte, hatte also gute Chancen, im allgemeinen
Trubel eines Urnenfeldes erfolgreich unterzutauchen.
Aber der Friedhof, auf den es den Geist von Shangrilah soeben verschlagen
hatte, war dummerweise wie ausgestorben, und so ragte die Signatur seines
Kokons daraus hervor wie ein wunder Daumen.
Jonna und der Geist waren gleichermaßen überrascht angesichts
der Stille, die sie umgab. Jonna faßte sich schneller als der Geist,
schnappte sich den Burschen, knackte seine Signatur und nagelte ihn in
seinem Kokon fest, so daß er sich nicht mehr aus eigener Kraft daraus
befreien konnte.
Jetzt mußte bloß noch jemand hingehen, den Pechvogel aus seiner
Hülse klauben und endlich - endlich! - seine Identität feststellen.
Danach war der Geist von Shangrilah kein Geist mehr, sondern nur noch
ein Fall für die Therapeuten.
Unglücklicherweise konnte Jonna diesen Teil der Jagd nicht selbst
erledigen. Der Kokon stand drüben in Shangrilah. Sie hätte mindestens
eine Stunde gebraucht, bis sie endlich vor Ort war. So lange konnte sie
den Dieb unmöglich in dem deaktivierten Kokon schmoren lassen. Zu
allem Überfluß saß der Geist in einem Raum nahe der Außenhülle
fest, im Blauen Sektor, in den kein anständiger Bürger freiwillig
auch nur einen Fuß hineinsetzte. Das galt auch für die Ordnungshüter
von der Nachbarschaftshilfe.
Und so blieb Jonna keine andere Wahl, als den Außendienst von Shangrilah
mit der Sache zu betrauen.
Was für den Geist zwangsläufig einen Zeitgewinn bedeutete.
Das ist nicht gut!
Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube übergab sie den
Auftrag an zwei Leute, die aufgrund ihrer Ausbildung mutig zu sein hatten.
Sie sprach persönlich mit ihnen und warnte sie ausdrücklich
vor der Gerissenheit des Geistes.
"Ich nehme an, ihr kennt ihn bereits", sagte sie eindringlich.
Sie nickten.
"Und vielleicht haltet ihr ihn für einen Irrläufer und
denkt, er sei sowieso nicht zu fangen. Aber wenn ihr die Sache auf die
leichte Schulter nehmt und er euch deswegen entwischt, werdet ihr Ärger
kriegen! Also beeilt euch und paßt auf!"
Sie versprachen es und wirkten dabei durchaus überzeugend.
So weit - so gut. Jonna behielt den stillgelegten Cyber-Kokon im Auge
und nutzte die Zwangspause, um sich ein wenig umzusehen.
Sie fragte sich, woran es liegen mochte, daß auf diesem Friedhof
so wenig los war - wobei schon das Wörtchen wenig
eine schamlose Untertreibung war. Hier tat sich einfach überhaupt
nichts. Jonna sichtete keinen einzigen Besucher. Und damit nicht
genug: es fehlten auch alle Arten von Grenzmarkierungen. Auf dem ganzen
Feld schien es keinen einzigen Claim zu geben.
Und das war sehr merkwürdig. Alte Urnenfelder
wie dieses waren normalerweise von einem so wüsten Gewirr von Reviergrenzen
durchzogen, daß sogar die Grabräuber selbst mitunter die Übersicht
verloren und sich heftig in die Haare gerieten. Hier dagegen gab es noch
nicht einmal Zeitmarkierungen an den einzelnen Grüften.
Ein unerforschter Friedhof? dachte Jonna verwundert.
Es schien tatsächlich so zu sein: Vor ihr lag ein ganzes Feld voller
Daten, die noch von niemandem erfaßt waren, außer vom System
selbst - aber das zählte nicht, weil der riesige Computerverbund
mit Informationen dieser Art nichts anzufangen wußte. Das System
war ein Ding - es hatte keine Phantasie und
keine kreativen Ideen. Alte, überholte Daten legte es ab. Im Normalfall
holte es sie nie wieder hervor.
Für Jonna dagegen war dieses Feld wie eine Goldader.
Jonna
war von Natur aus völlig immun gegen die Einflüsse der Außenwelt,
und damit war sie einzigartig: sie konnte ohne medikamentöse Vorbereitung
nach draußen gehen - jederzeit. Im allgemeinen betrachtete sie das
als einen Glücksfall (sie war gerne in der Außenwelt) aber
es hatte auch seine Nachteile. Das Risiko, daß sie sich draußen
irgendeine Krankheit einfing und die Bürger damit infizierte, war
zwar nach all der langen Zeit gleich Null, aber die Bürger - und
sogar die meisten Außendienstler - sahen das anders: Wenn sie konnten,
gingen sie Jonna in weitem Bogen aus dem Weg.
Sie hielt jedoch auf virtueller Basis Verbindung zu einigen Bürgern,
hauptsächlich zu Quellentauchern. Sie belieferte sie mit Informationen
über die Außenwelt, mit Bildern, die nicht aus den schon tausendfach
durchwühlten Archiven stammten, mit schwer zugänglichen Daten
zu naturwissenschaftlichen Themen und anderem mehr. Auch ein paar Historiker
profitierten regelmäßig von ihrer Arbeit und wußten das
sehr zu schätzen.
Anerkennung ist ein gutes Mittel gegen Einsamkeit, und Jonna war oft sehr
einsam. Dieser uralte Friedhof würde ihr reichlich Beifall einbringen.
Oder auch nicht, dachte sie und bemühte
sich nach Kräften, ihre Euphorie zu dämpfen. Wahrscheinlich
übersehe ich irgend etwas!
Sie zitterte innerlich vor Spannung, als sie sich daranmachte, eine der
uralten Urnen unter die Lupe zu nehmen. Aber noch ehe sie auch nur den
Namen des Insassen erkennen konnte, fragte eine Stimme aus dem Nichts:
"Was treibst du gerade?"
Bitte nicht JETZT!
Die Stimme gehörte zu Jean Cheroux, Jonnas Observer, und die Frage
war rein rhetorisch. Cheroux wußte stets haargenau, womit seine
Klientin beschäftigt war. Das war sein Job.
"Ich habe den Geist von Shangrilah am Wickel!" sagte Jonna ziemlich
ungnädig. "Störe mich nicht, sonst geht er mir gleich wieder
durch die Lappen!"
"Ich sehe, daß du ihn bereits in seinem Kokon fixiert hast.
Um den Rest brauchst du dich nicht mehr zu kümmern."
"Entschuldige", sagte Jonna, "aber das sehe ich anders.
In diesem speziellen Fall möchte ich dranbleiben!"
"Das verstehe ich sehr gut", behauptete Cheroux. "Dich
reizt dieser alte Friedhof. Aber wir haben einen Schleusenbruch. Also:
keine Diskussionen!"
Ein Schleusenbruch war eine wichtige Sache - ganz klar. Aber der Geist
von Shangrilah war auch wichtig, und der
Unterschied zwischen ihm und der kaputten Schleuse bestand darin, daß
die Schleuse mit Sicherheit auf Jonna warten würde, der Geist dagegen
nicht. Die Bürger waren nicht gerade wild darauf, sich in der Nähe
von Schleusen herumzutreiben, egal, in welchem Zustand die sich befanden.
Es gab reichlich bemessene Sicherheitszonen. Niemand konnte aus Versehen
hinausstolpern - es hatte keine Eile. Dem Geist dagegen würde schon
ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit genügen, und schon war er
auf und davon. Jonna hatte seine Spur schon so oft verloren, daß
sie gar nicht mehr mitzuzählen wagte.
"Laß mich wenigstens noch dranbleiben, bis man ihn gefaßt
hat!" sagte sie. "Ich möchte ihn jetzt nicht aus den Augen
lassen!"
"Du hast ihn gestellt und neutralisiert", erwiderte Cheroux
ungeduldig. "Den Rest können andere erledigen. Ich werde ein
bißchen auf ihn aufpassen."
"Ein bißchen reicht nicht!"
"Schon gut, ich werde mich ihm widmen! Aber jetzt mach dich gefälligst
auf die Socken!"
Cheroux war kein schlechter Observer - es gab weitaus schlimmere als ihn.
Im Grunde genommen war er sogar ganz okay. Aber wenn es um Schleusenbrüche
und ähnliche Dinge ging, war er manchmal etwas überempfindlich,
und gerade jetzt hörte er sich so an, als sei er drauf und dran,
die Geduld zu verlieren.
Entgegen ihrer Überzeugung zog sie los.
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