Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 1:
Der Geist von Shangrilah / 2
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Normalerweise hätte das seine Rettung sein sollen. Ein Urnenfeld war das beste Versteck, das man finden konnte, wenn man per Cykon unterwegs war.

Die früher sprichwörtliche Friedhofsruhe war in Elcit völlig unbekannt. Die Bürger hatten ein sehr lebendiges Verhältnis zu ihren Toten. Sämtliche Vorfahren bis zu den fernsten Ahnen hinab wurden in das gesellschaftliche Leben einbezogen. Zu jeder Tages- und Nachtzeit fanden auf den Friedhöfen Familienfeste statt. Scharen von Forschern gingen in den Urnen ein und aus, und die Historiker waren meistens gleich rudelweise unterwegs. Darüber hinaus gab es Hunderttausende von Quellentauchern und anderen Schatzsuchern, die mehr oder weniger offen ihre Claims absteckten oder gar heimlich an den tieferen Schichten der Grüfte herumkratzten - oft genug Anlaß für Aufruhr und Alarm. Wer sich verstecken mußte, hatte also gute Chancen, im allgemeinen Trubel eines Urnenfeldes erfolgreich unterzutauchen.

Aber der Friedhof, auf den es den Geist von Shangrilah soeben verschlagen hatte, war dummerweise wie ausgestorben, und so ragte die Signatur seines Kokons daraus hervor wie ein wunder Daumen.

Jonna und der Geist waren gleichermaßen überrascht angesichts der Stille, die sie umgab. Jonna faßte sich schneller als der Geist, schnappte sich den Burschen, knackte seine Signatur und nagelte ihn in seinem Kokon fest, so daß er sich nicht mehr aus eigener Kraft daraus befreien konnte.

Jetzt mußte bloß noch jemand hingehen, den Pechvogel aus seiner Hülse klauben und endlich - endlich! - seine Identität feststellen. Danach war der Geist von Shangrilah kein Geist mehr, sondern nur noch ein Fall für die Therapeuten.

Unglücklicherweise konnte Jonna diesen Teil der Jagd nicht selbst erledigen. Der Kokon stand drüben in Shangrilah. Sie hätte mindestens eine Stunde gebraucht, bis sie endlich vor Ort war. So lange konnte sie den Dieb unmöglich in dem deaktivierten Kokon schmoren lassen. Zu allem Überfluß saß der Geist in einem Raum nahe der Außenhülle fest, im Blauen Sektor, in den kein anständiger Bürger freiwillig auch nur einen Fuß hineinsetzte. Das galt auch für die Ordnungshüter von der Nachbarschaftshilfe. Und so blieb Jonna keine andere Wahl, als den Außendienst von Shangrilah mit der Sache zu betrauen.

Was für den Geist zwangsläufig einen Zeitgewinn bedeutete.

Das ist nicht gut!

Mit einem mulmigen Gefühl in der Magengrube übergab sie den Auftrag an zwei Leute, die aufgrund ihrer Ausbildung mutig zu sein hatten. Sie sprach persönlich mit ihnen und warnte sie ausdrücklich vor der Gerissenheit des Geistes.

"Ich nehme an, ihr kennt ihn bereits", sagte sie eindringlich.

Sie nickten.

"Und vielleicht haltet ihr ihn für einen Irrläufer und denkt, er sei sowieso nicht zu fangen. Aber wenn ihr die Sache auf die leichte Schulter nehmt und er euch deswegen entwischt, werdet ihr Ärger kriegen! Also beeilt euch und paßt auf!"

Sie versprachen es und wirkten dabei durchaus überzeugend.

So weit - so gut. Jonna behielt den stillgelegten Cyber-Kokon im Auge und nutzte die Zwangspause, um sich ein wenig umzusehen.

Sie fragte sich, woran es liegen mochte, daß auf diesem Friedhof so wenig los war - wobei schon das Wörtchen wenig eine schamlose Untertreibung war. Hier tat sich einfach überhaupt nichts. Jonna sichtete keinen einzigen Besucher. Und damit nicht genug: es fehlten auch alle Arten von Grenzmarkierungen. Auf dem ganzen Feld schien es keinen einzigen Claim zu geben.

Und das war sehr merkwürdig. Alte Urnenfelder wie dieses waren normalerweise von einem so wüsten Gewirr von Reviergrenzen durchzogen, daß sogar die Grabräuber selbst mitunter die Übersicht verloren und sich heftig in die Haare gerieten. Hier dagegen gab es noch nicht einmal Zeitmarkierungen an den einzelnen Grüften.

Ein unerforschter Friedhof?
dachte Jonna verwundert.

Es schien tatsächlich so zu sein: Vor ihr lag ein ganzes Feld voller Daten, die noch von niemandem erfaßt waren, außer vom System selbst - aber das zählte nicht, weil der riesige Computerverbund mit Informationen dieser Art nichts anzufangen wußte. Das System war ein Ding - es hatte keine Phantasie und keine kreativen Ideen. Alte, überholte Daten legte es ab. Im Normalfall holte es sie nie wieder hervor.

Für Jonna dagegen war dieses Feld wie eine Goldader.

Jonna war von Natur aus völlig immun gegen die Einflüsse der Außenwelt, und damit war sie einzigartig: sie konnte ohne medikamentöse Vorbereitung nach draußen gehen - jederzeit. Im allgemeinen betrachtete sie das als einen Glücksfall (sie war gerne in der Außenwelt) aber es hatte auch seine Nachteile. Das Risiko, daß sie sich draußen irgendeine Krankheit einfing und die Bürger damit infizierte, war zwar nach all der langen Zeit gleich Null, aber die Bürger - und sogar die meisten Außendienstler - sahen das anders: Wenn sie konnten, gingen sie Jonna in weitem Bogen aus dem Weg.

Sie hielt jedoch auf virtueller Basis Verbindung zu einigen Bürgern, hauptsächlich zu Quellentauchern. Sie belieferte sie mit Informationen über die Außenwelt, mit Bildern, die nicht aus den schon tausendfach durchwühlten Archiven stammten, mit schwer zugänglichen Daten zu naturwissenschaftlichen Themen und anderem mehr. Auch ein paar Historiker profitierten regelmäßig von ihrer Arbeit und wußten das sehr zu schätzen.

Anerkennung ist ein gutes Mittel gegen Einsamkeit, und Jonna war oft sehr einsam. Dieser uralte Friedhof würde ihr reichlich Beifall einbringen.

Oder auch nicht, dachte sie und bemühte sich nach Kräften, ihre Euphorie zu dämpfen. Wahrscheinlich übersehe ich irgend etwas!

Sie zitterte innerlich vor Spannung, als sie sich daranmachte, eine der uralten Urnen unter die Lupe zu nehmen. Aber noch ehe sie auch nur den Namen des Insassen erkennen konnte, fragte eine Stimme aus dem Nichts:

"Was treibst du gerade?"

Bitte nicht JETZT!

Die Stimme gehörte zu Jean Cheroux, Jonnas Observer, und die Frage war rein rhetorisch. Cheroux wußte stets haargenau, womit seine Klientin beschäftigt war. Das war sein Job.

"Ich habe den Geist von Shangrilah am Wickel!" sagte Jonna ziemlich ungnädig. "Störe mich nicht, sonst geht er mir gleich wieder durch die Lappen!"

"Ich sehe, daß du ihn bereits in seinem Kokon fixiert hast. Um den Rest brauchst du dich nicht mehr zu kümmern."

"Entschuldige", sagte Jonna, "aber das sehe ich anders. In diesem speziellen Fall möchte ich dranbleiben!"

"Das verstehe ich sehr gut", behauptete Cheroux. "Dich reizt dieser alte Friedhof. Aber wir haben einen Schleusenbruch. Also: keine Diskussionen!"

Ein Schleusenbruch war eine wichtige Sache - ganz klar. Aber der Geist von Shangrilah war auch wichtig, und der Unterschied zwischen ihm und der kaputten Schleuse bestand darin, daß die Schleuse mit Sicherheit auf Jonna warten würde, der Geist dagegen nicht. Die Bürger waren nicht gerade wild darauf, sich in der Nähe von Schleusen herumzutreiben, egal, in welchem Zustand die sich befanden. Es gab reichlich bemessene Sicherheitszonen. Niemand konnte aus Versehen hinausstolpern - es hatte keine Eile. Dem Geist dagegen würde schon ein kurzer Moment der Unaufmerksamkeit genügen, und schon war er auf und davon. Jonna hatte seine Spur schon so oft verloren, daß sie gar nicht mehr mitzuzählen wagte.

"Laß mich wenigstens noch dranbleiben, bis man ihn gefaßt hat!" sagte sie. "Ich möchte ihn jetzt nicht aus den Augen lassen!"

"Du hast ihn gestellt und neutralisiert", erwiderte Cheroux ungeduldig. "Den Rest können andere erledigen. Ich werde ein bißchen auf ihn aufpassen."

"Ein bißchen reicht nicht!"

"Schon gut, ich werde mich ihm widmen! Aber jetzt mach dich gefälligst auf die Socken!"

Cheroux war kein schlechter Observer - es gab weitaus schlimmere als ihn. Im Grunde genommen war er sogar ganz okay. Aber wenn es um Schleusenbrüche und ähnliche Dinge ging, war er manchmal etwas überempfindlich, und gerade jetzt hörte er sich so an, als sei er drauf und dran, die Geduld zu verlieren.

Entgegen ihrer Überzeugung zog sie los.


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