Mit Kummer im Hirn begann sie zu rechnen:

Eine Dusche - das mußte sein. Der Staub der Außenwelt hing ihr in den Haaren und in der Kleidung - sie durfte die Bürger nicht in Gefahr bringen. Danach in den Saniscan, für einen kurzen Routine-Check: Auch das war nötig, denn das System hätte sie sonst nicht in die Stadt gelassen.

Alles, was Jonna am Leibe trug, wanderte in den Abfallschacht. Der Sani erwartete sie.

"Aber mach es kurz", forderte sie. "Ich habe wenig Zeit!"

Sie haßte die Eile, mit der das System verstorbene Bürger in den Kreislauf der Stoffe zurückholte, aber der Computerverbund ließ in dieser Sache nicht mit sich reden. Für das System waren die Körper toter Bürger nichts anderes als organischer Abfall, und organische Abfälle gehörten in die Bio-Tanks - so schnell wie möglich. Ließ man sie herumliegen, so wurden sie im Handumdrehen zur Lebensgrundlage für eine Vielzahl von Organismen, die sich in der Enge der Stadt schnell zu einer tödlichen Gefahr entwickeln konnten.

Die Gesundheit der Bürger hatte absolute Priorität - nicht nur für das System, sondern auch für Jonna Harper. Trotzdem wünschte sie sich, daß man bei der Grundprogrammierung etwas mehr Rücksicht auf ganz normale menschliche Gefühle genommen hätte. Denn wie logisch man es auch immer zu begründen versuchte: Ein toter Mensch war und blieb für seine Mitmenschen nun mal etwas anderes als ein überfälliges Sandwich.

Der Saniscan tat seine Arbeit schweigend, und er tat sie schnell. Schon nach kaum zwei Minuten zog er seine Sensoren zurück.

"Fertig", sagte er lakonisch.

Neue Kleidung - der Automat lieferte auf Jonnas Bitte hin etwas Dunkles, Gedecktes - nicht gerade feierlich, aber es mußte reichen.

Sie eilte von dannen, das Haar noch ganz feucht.

Unten im Bahnhof sah sie den hinteren Teil eines Zuges im Tunnel verschwinden.

Verdammter Mist!

Und natürlich gab es keine Wartungskapseln auf den Subetagen eins und zwei. Dafür mehrere Kapseln auf Ebene drei - leider allesamt im Depot.

Jonna beorderte eine davon in den Wartebereich und hastete die Rampe hinunter. Aber als sie unten ankam, raste das kleine Fahrzeug gerade auf und davon, angefordert von irgend jemandem, der draußen im Tunnel arbeitete und ein Transportmittel brauchte. Bis die nächste Kapsel zur Stelle war, vergingen zwei weitere kostbare Minuten.

Jonna stieg ein, blieb stehen, zu unruhig, zu angespannt, um sich hinzusetzen. Ihre Gedanken drehten sich im Kreis.

Billy ist tot, Billy ist tot, Billy ist tot.

Eine stumme Litanei, die nicht enden wollte.

Je öfter sie es dachte, desto weniger konnte sie es glauben. Sie wünschte sich, sie hätte weinen können, aber sie war einfach noch nicht soweit. Sie fühlte sich innerlich wie vereist.

Sie versuchte sich abzulenken, nahm Kontakt zum System auf und forderte Aufklärung über die genauen Umstände, die zu Billys Tod geführt hatten. Aber sie fand nicht mehr heraus als das, was Cheroux ihr bereits gesagt hatte:

Billy hatte sich gegen eine defekte Wartungsklappe gelehnt und war in die Tiefe gestürzt.

Das war alles. Kein Unbefugter hatte sich in dem Schacht herumgetrieben, niemand hatte sich vorher an der Klappe zu schaffen gemacht, nirgends gab es einen Hinweis darauf, daß irgendeine Form von Manipulation vorlag.

Es war ein Unfall - jenseits jeden Zweifels. 

Trotzdem wurde Jonna das Gefühl nicht los, daß irgend etwas an der ganzen Sache nicht stimmte. Es war kein konkreter Verdacht, nichts, das sich logisch hätte begründen lassen - nur diese innere Unruhe und die Erinnerung an den Moment draußen in der Außenwelt, als es ihr schien, als sei plötzlich alle Farbe aus der Welt gewichen. Eine Wolke vor der Sonne. Aber das erklärte nicht die plötzliche Ahnung drohenden Unheils - jetzt nicht mehr.

Ich hätte umkehren sollen!

Du hättest nichts tun können.

Vielleicht doch. Ich hätte ihn anrufen können. Warum habe ich ihn nicht angerufen? Wie lange habe ich nicht mit ihm gesprochen? Warum hat er sich so lange nicht bei mir gemeldet? Warum war er nie zu erreichen?

Die Kapsel bremste ab und kam sanft zum Stillstand. Jonna trat auf den Bahnhof von Atlantis hinaus, hastete die Treppe hinauf, griff sich den erstbesten Rolli:

"Zum Zentrallift! Schnell!"

Und da das allein nicht reichte, half sie mit dem Scanner nach.

Der Rolli raste davon.


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