Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 17:
Schlechte Nachrichten
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Sie erreichte Shangrilah-West eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang, mit dem letzten Rest der bescheidenen Energiereserve, über die das Solarmobil verfügte.
Als der Wagen die Rampe hinaufrumpelte, kam Maynard aus der Schleuse gerannt. Jonna machte sich auf eine harte Auseinandersetzung gefaßt, aber statt dessen rief ihr der Schleusenwart schon von weitem zu:

"Kommen Sie - kommen Sie, schnell! Ihr Observer wartet schon seit Stunden auf Sie!"

Und noch während Maynard winkte und rief, trat Jean Cheroux aus der Schleuse.

Der Magen zog sich ihr zusammen. Etwas Schlimmes mußte geschehen sein.

Cheroux war zwar immun, verließ die Stadt aber nur noch sehr selten. Früher waren sie manchmal zusammen hinausgegangen, aber in den letzten Jahren hatte Cheroux' Immunität stark nachgelassen. Vor rund zwei Jahrhunderten hatte man Schutznetze über einige Terrassen auf der zweiten Ebene von Camelot gespannt. Dort absolvierte er gemeinsam mit ein paar anderen Observern ein- bis zweimal pro Woche ein leichtes Training.

Jonna fragte sich, warum ihr das ausgerechnet jetzt durch den Kopf ging.

Ein unbewußtes Ausweichmanöver, nahm sie an.

Inzwischen hatte Maynard das Solarmobil erreicht.

"Gehen Sie!" sagte er zu Jonna. "Ich kümmere mich um alles weitere!"

Kein Wort zum Zustand des Wagens, keinerlei Vorwürfe - ihr wurde angst und bange.

Cheroux stand direkt neben der Schleuse, steif, mit hochgezogenen Schultern, ängstlich bemüht, nur ja nicht mit der Außenwand in Berührung zu kommen. Er wirkte bekümmert und sorgenvoll - er sah aus wie das personifizierte Unbehagen.

"Wer ist es diesmal, und was ist passiert?" fragte Jonna bestürzt.

Cheroux tat sich sichtlich schwer damit, es auszusprechen:

"Billy ist tot."

All die Bilder, die Jonna nach dieser langen Fahrt vor ihrem inneren Auge hatte, verschwanden wie ausgelöscht, und übrig blieb nur eine große, schwarze Stille, in der ein Name pochte:

Billy.

Sonst nichts.

"Wie ist es passiert?" fragte sie schließlich.

Cheroux deutete auf die Tür.

"Laß uns drinnen darüber reden!" schlug er vor.

Jonna schwieg und rührte sich nicht von der Stelle.

"Er war im zentralen Liftschacht von Atlantis", sagte Cheroux seufzend. "Er hat sich gegen eine Wartungsklappe gelehnt. Die Klappe war defekt - sie hat nachgegeben. Billy ist in den Schacht gestürzt. Eine Kabine kam von unten heraufgefahren. Er war auf der Stelle tot."

Jonna drehte sich um und blickte auf den dunkler werdenden Himmel.

Billy ist tot!


Manchmal kam es ihr vor, als trüge sie lauter kleine Uhrwerke in ihrem Unterbewußtsein mit sich herum - eines für jeden Menschen, mit dem sie in der einen oder anderen Weise in Kontakt stand. Wenn einer von ihnen starb, bildete sich an jener Stelle, an der seine Uhr getickt hatte, eine Art Vakuum, eine Zone des Schweigens und der Stille.

In der letzten Zeit waren viele gestorben.

"Es tut mir leid", sagte Cheroux hilflos.

Jonna hörte ihn kaum. Sie fragte sich, wie es zu einem solchen Unfall hatte kommen können. Warum hatte das System den Defekt nicht registriert und Billy gewarnt?

Dann besann sie sich auf die Notwendigkeiten dieses traurigen Augenblicks.

"Wann findet die Rückgabe statt?" fragte sie.

"Um einundzwanzig Uhr."

Jonna sah auf den Scanner und stellte erschrocken fest, daß ihr nur noch eine dreiviertel Stunde blieb.

"Du solltest besser nicht hingehen!" sagte der Observer mitten in diesen Schrecken hinein.

"Gerade du solltest wissen, wieviel Billy mir bedeutet hat", erwiderte Jonna heftig. "Von all meinen Geschwistern war er mir der liebste. Ich werde ihn nicht im Stich lassen!"

"Du kannst ihm jetzt nicht mehr helfen", gab Cheroux zu bedenken. "Das einzige, was du noch für ihn tun kannst, ist dies: bleibe seiner Beisetzung fern und sorge auf diese Weise dafür, daß sein Abschied von dieser Welt wenigstens nicht mit einem Skandal verbunden ist!"

Und damit hatte er recht. Jonna wußte das nur allzu gut. Trotzdem war sie nicht bereit, auf ihren Observer zu hören - nicht dieses Mal!

"Glaube mir: Ich werde ganz bestimmt keinen Skandal daraus machen!" versicherte sie sarkastisch.

"Aber deine Mutter wird es tun, wenn du dort auftauchst. Billy ist im Dienst für die Stadt verunglückt. Du weißt doch, was das für sie bedeutet!"

"Oh, ja, das weiß ich! Aber sie wird dort sein. Und nicht nur sie allein. Alle werden sie da sein, die ganze verdammte Meute - alle, die immer auf ihm herumgehackt haben. Wer weiß, was sie aus dieser Trauerfeier machen werden!"

"Wenn du das unbedingt wissen mußt, dann sieh dir die Zeremonie im Cykon an!"

"Ich werde bei ihm sein", erwiderte Jonna störrisch. "Persönlich!"

Denn Billy ist tot.

Jean Cheroux musterte seine Klientin nachdenklich.

"Einundzwanzig Uhr ist ein ziemlich später Zeitpunkt für eine Beisetzung", sagte er. "Ich könnte die Zeremonie auf morgen früh verschieben lassen. Dann hättest du genug Zeit, dich von ihm zu verabschieden - allein, ohne lästige Zuschauer."

"Das kannst du nicht tun - nicht ohne eine plausible Begründung!"

"Ich habe eine Begründung", erklärte Cheroux ärgerlich. "Du bist wichtig für die Stadt, und bei dieser Sache geht es um dein seelisches Gleichgewicht. Mehr brauche ich nicht. Aber ehe ich eine solche Anordnung treffe, muß ich sicher sein, daß das Ganze auch tatsächlich einen Sinn ergibt. Also: Wenn ich dir die Möglichkeit verschaffe, Billy noch einmal zu sehen - wirst du dann auf die Teilnahme an der offiziellen Zeremonie verzichten?"

"Nein!"

Cheroux seufzte.

"Also gut", sagte er. "Tu, was du nicht lassen kannst. Aber ich wünschte, du würdest nicht gehen!"

Und ich wünschte, es wäre nicht nötig. Aber Billy ist tot.

Jonna stürmte davon.


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