Sie erreichte Shangrilah-West eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang,
mit dem letzten Rest der bescheidenen Energiereserve, über die das
Solarmobil verfügte. Als
der Wagen die Rampe hinaufrumpelte, kam Maynard aus der Schleuse gerannt.
Jonna machte sich auf eine harte Auseinandersetzung gefaßt, aber
statt dessen rief ihr der Schleusenwart schon von weitem zu:
"Kommen
Sie - kommen Sie, schnell! Ihr Observer wartet schon seit Stunden auf
Sie!"
Und
noch während Maynard winkte und rief, trat Jean Cheroux aus der Schleuse.
Der
Magen zog sich ihr zusammen. Etwas Schlimmes mußte geschehen sein.
Cheroux war zwar immun, verließ die Stadt aber nur noch sehr selten.
Früher waren sie manchmal zusammen hinausgegangen, aber in den letzten
Jahren hatte Cheroux' Immunität stark nachgelassen. Vor rund zwei
Jahrhunderten hatte man Schutznetze über einige Terrassen auf der
zweiten Ebene von Camelot gespannt. Dort absolvierte er gemeinsam mit
ein paar anderen Observern ein- bis zweimal pro Woche ein leichtes Training.
Jonna fragte sich, warum ihr das ausgerechnet jetzt durch den Kopf ging.
Ein unbewußtes Ausweichmanöver,
nahm sie an.
Inzwischen hatte Maynard das Solarmobil erreicht.
"Gehen Sie!" sagte er zu Jonna. "Ich kümmere mich
um alles weitere!"
Kein Wort zum Zustand des Wagens, keinerlei Vorwürfe - ihr wurde
angst und bange.
Cheroux stand direkt neben der Schleuse, steif, mit hochgezogenen Schultern,
ängstlich bemüht, nur ja nicht mit der Außenwand in Berührung
zu kommen. Er wirkte bekümmert und sorgenvoll - er sah aus wie das
personifizierte Unbehagen.
"Wer ist es diesmal, und was ist passiert?" fragte Jonna bestürzt.
Cheroux tat sich sichtlich schwer damit, es auszusprechen:
"Billy ist tot."
All die Bilder, die Jonna nach dieser langen Fahrt vor ihrem inneren Auge
hatte, verschwanden wie ausgelöscht, und übrig blieb nur eine
große, schwarze Stille, in der ein Name pochte:
Billy.
Sonst nichts.
"Wie ist es passiert?" fragte sie schließlich.
Cheroux deutete auf die Tür.
"Laß uns drinnen darüber reden!" schlug er vor.
Jonna schwieg und rührte sich nicht von der Stelle.
"Er war im zentralen Liftschacht von Atlantis", sagte Cheroux
seufzend. "Er hat sich gegen eine Wartungsklappe gelehnt. Die Klappe
war defekt - sie hat nachgegeben. Billy ist in den Schacht gestürzt.
Eine Kabine kam von unten heraufgefahren. Er war auf der Stelle tot."
Jonna drehte sich um und blickte auf den dunkler werdenden Himmel.
Billy ist tot!
Manchmal kam es ihr vor, als trüge sie lauter kleine Uhrwerke in
ihrem Unterbewußtsein mit sich herum - eines für jeden Menschen,
mit dem sie in der einen oder anderen Weise in Kontakt stand. Wenn einer
von ihnen starb, bildete sich an jener Stelle, an der seine Uhr getickt
hatte, eine Art Vakuum, eine Zone des Schweigens und der Stille.
In der letzten Zeit waren viele gestorben.
"Es tut mir leid", sagte Cheroux hilflos.
Jonna hörte ihn kaum. Sie fragte sich, wie es zu einem solchen Unfall
hatte kommen können. Warum hatte das System den Defekt nicht registriert
und Billy gewarnt?
Dann besann sie sich auf die Notwendigkeiten dieses traurigen Augenblicks.
"Wann findet die Rückgabe statt?" fragte sie.
"Um einundzwanzig Uhr."
Jonna sah auf den Scanner und stellte erschrocken fest, daß ihr
nur noch eine dreiviertel Stunde blieb.
"Du solltest besser nicht hingehen!" sagte der Observer mitten
in diesen Schrecken hinein.
"Gerade du solltest wissen, wieviel Billy mir bedeutet hat",
erwiderte Jonna heftig. "Von all meinen Geschwistern war er mir der
liebste. Ich werde ihn nicht im Stich lassen!"
"Du kannst ihm jetzt nicht mehr helfen", gab Cheroux zu bedenken.
"Das einzige, was du noch für ihn tun kannst, ist dies: bleibe
seiner Beisetzung fern und sorge auf diese Weise dafür, daß
sein Abschied von dieser Welt wenigstens nicht mit einem Skandal verbunden
ist!"
Und damit hatte er recht. Jonna wußte das nur allzu gut. Trotzdem
war sie nicht bereit, auf ihren Observer zu hören - nicht dieses
Mal!
"Glaube mir: Ich werde ganz bestimmt
keinen Skandal daraus machen!" versicherte sie sarkastisch.
"Aber deine Mutter wird es tun, wenn du dort auftauchst. Billy ist
im Dienst für die Stadt verunglückt. Du weißt doch, was
das für sie bedeutet!"
"Oh, ja, das weiß ich! Aber sie
wird dort sein. Und nicht nur sie allein. Alle werden sie da sein, die
ganze verdammte Meute - alle, die immer auf ihm herumgehackt haben. Wer
weiß, was sie aus dieser Trauerfeier machen werden!"
"Wenn du das unbedingt wissen mußt, dann sieh dir die Zeremonie
im Cykon an!"
"Ich werde bei ihm sein", erwiderte Jonna störrisch. "Persönlich!"
Denn Billy ist tot.
Jean Cheroux musterte seine Klientin nachdenklich.
"Einundzwanzig Uhr ist ein ziemlich später Zeitpunkt für
eine Beisetzung", sagte er. "Ich könnte die Zeremonie auf
morgen früh verschieben lassen. Dann hättest du genug Zeit,
dich von ihm zu verabschieden - allein, ohne lästige Zuschauer."
"Das kannst du nicht tun - nicht ohne eine plausible Begründung!"
"Ich habe eine Begründung",
erklärte Cheroux ärgerlich. "Du bist wichtig für die
Stadt, und bei dieser Sache geht es um dein seelisches Gleichgewicht.
Mehr brauche ich nicht. Aber ehe ich eine solche Anordnung treffe, muß
ich sicher sein, daß das Ganze auch tatsächlich einen Sinn
ergibt. Also: Wenn ich dir die Möglichkeit verschaffe, Billy noch
einmal zu sehen - wirst du dann auf die Teilnahme an der offiziellen Zeremonie
verzichten?"
"Nein!"
Cheroux seufzte.
"Also gut", sagte er. "Tu, was du nicht lassen kannst.
Aber ich wünschte, du würdest nicht gehen!"
Und ich wünschte, es wäre nicht nötig.
Aber Billy ist tot.
Jonna stürmte davon.
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