Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 14:
Sikkim / 2
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Als die Kapsel in Shangrilah-West zum Stehen kam, meldete sich Cheroux.

"Tralman ist verletzt", berichtete er. "Sikkim hat ihn mit einem Messer niedergestochen. Tralman ist in einem miserablen Zustand, aber er will unbedingt mit Sikkim sprechen. Er besteht darauf, daß du nichts unternimmst, bis er zur Stelle ist."

"Dann ist er genauso durchgeknallt wie sein Klient", sagte Jonna. "Sikkim will offenbar eine Schleuse austricksen und beide Schotte gleichzeitig öffnen. Das System ist in Alarmstimmung. Wir haben keine Zeit mehr!"

"Ich kläre das mit dem System", schrie Tralman dazwischen. "Ich werde in fünf Minuten bei Ihnen sein. Lassen Sie sich etwas einfallen und halten Sie Sikkim solange hin!"

Jonna erwartete einen Kommentar von Cheroux, aber ihr Observer brach die Verbindung schweigend ab.

Jonna steckte den Scanner in die Tasche und stieg die Rampe hinauf - in normalem Tempo, obwohl ihr eher nach Rennen zumute war. Aber in Shangrilah-West herrschte Hochbetrieb: Roller-Tube-Teams, Skater, Pyram-Riders, Ramp-Slider, eine Hockey-Mannschaft, alle mit reichlich Gepäck, von einem Troß von Trainern, Helfern und Fans umgeben - Jonna entsann sich düster, daß für die nächsten Tage eine Reihe von Ausscheidungskämpfen für die Stadt-Olympiade auf dem Programm standen.

Durch eine Tür mit einer gelben Sonne auf hellblauem Grund gelangte sie in den Sicherheitsbereich des Schleusentrakts. Sie öffnete das innere Schott: über der ersten Schleuse brannte das rote Licht - das Außenschott war immer noch offen. Wenn Sikkim es schaffte, auch die innere Tür zu öffnen, würde das System sich nicht länger davon abhalten lassen, lauthals Alarm zu schlagen.

"Wie lange wird es dauern, bis die Leute da draußen in ihren Zügen sitzen?" fragte Jonna leise.

"Fast fünfzehn Minuten."

"Gib bitte dis dahin keinen Alarm! Wenn die alle anfangen, zu rennen, wird es Verletzte geben!"

"Ich werde warten", versprach das System.

Jonna lauschte an der Tür. Sie konnte hören, wie Sikkim auf der anderen Seite arbeitete, aber was er tat, ergab keinen Sinn: er zerrte, zog und rüttelte am Öffnungsbügel herum, als hätte er alles vergessen, was er jemals über den Umgang mit Schleusentüren gelernt hatte.

So schafft er es nie!


Unter den gegebenen Umständen war das eine durchaus beruhigende Feststellung und dennoch ein Quell neuer Sorgen: Sikkims Verhalten war völlig absurd.

Warum
erhielt er sich so abwegig? Na schön, um seine Immunität war es nicht mehr sonderlich gut bestellt, aber das hatte doch nichts mit seinem Verstand zu tun! Jonna kannte ihn als einen klugen, mutigen und integren Mann. Wie paßte das alles zusammen?

Sie ging ein paar Türen weiter, öffnete eine der Schleusen und trat in die Außenwelt hinaus.

Vor ihr lag eine riesige, von Gras und Moos überwucherte Plattform, die sich wie ein langgezogenes Riff rund hundert Meter weit in die Außenwelt erstreckte: eine ehemalige Ladezone, Überbleibsel aus der Zeit, als man Shangrilah erbaut hatte.

Jonna schlich sich an die offene Schleusentür heran, ging in die Hocke und spähte um die Ecke.

Sikkim war nur etwa vier Meter von ihr entfernt. Er zerrte immer noch an dem inneren Schott herum. Er sah sich nicht um, schenkte seiner Umgebung keinerlei Aufmerksamkeit. Da er seinen Scanner nicht benutzte, hatte er wahrscheinlich noch nicht einmal bemerkt, daß seine Verbindung zum System unterbrochen war.

Die von Tralman erbetene Frist war abgelaufen. Jonna betrat die Schleuse. Sikkim wandte ihr den Rücken zu. Er schien sie gar nicht wahrzunehmen.

Sie stellte Sikkims Tasche beiseite und schloß das Außenschott. Im nächsten Augenblick brach die Hölle los.

"SIKKIM! HÖR SOFORT MIT DEM UNSINN AUF UND GEH VON DER TÜR WEG!"

Das war Tralmans Stimme, vom Lautsprecher in der Schleusenkammer zu einem schier unerträglichen Gebrüll verstärkt.

"Sind Sie irre?" schrie Jonna wütend. "Schalten Sie sofort den verdammten Krach ab!"

Sikkim fuhr herum. Für einen Augenblick stand er regungslos da, starrte Jonna an, die Arme erhoben, wie ein wütender Bär. Es war offensichtlich, daß er sie nicht erkannte: er blickte durch sie hindurch, als wäre sie aus Glas.

"He, Sikkim!" sagte sie, verzweifelt bemüht, zu retten, was noch zu retten war. "Ich bin es, Jonna! Das hier ist ein übler Ort. Komm schon, alter Freund, laß uns von hier verschwinden und essen gehen, nur wir beide, du und ich, wie in alten Zeiten!"

Er gab keinen Laut von sich. Er stürzte sich auf sie mit Zähnen und Krallen, in blinder Raserei, wie ein wildes Tier.

Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zur Wehr zu setzen - gegen einen Gegner, der eigentlich ihr Freund war.

Sie hielt ihn sich vom Halse, nicht mehr und nicht weniger, wich ihm aus, blockte seine Schläge ab, aber sie schlug nicht zurück. Sie fügte ihm keine noch so geringe Verletzung zu.

Die innere Schleusentür öffnete sich zischend. Ein Außendienstler stürzte herein, warf sich auf Sikkim, riß ihn zu Boden und hielt ihn fest.

Jonna lehnte sich schweratmend gegen die Wand, unendlich dankbar dafür, daß dieser beängstigende Kampf beendet war.

Sikkim sah schrecklich aus. Seine Haut war blaß wie die eines Toten. Die Haare klebten ihm am Schädel. Dicke Schweißtropfen liefen ihm über das Gesicht. Seine Stirn war blaurot unterlaufen, seine Hände glichen verkrümmten Krallen. Er starrte in Jonnas Richtung, schien sie aber auch jetzt nicht wahrzunehmen.

"Was ist mit dir passiert?" fragte Jonna entsetzt.

Eine erste Reaktion, aber sie fiel sehr seltsam aus: Sikkim zuckte zusammen, wand sich verzweifelt, warf sich hin und her.

"Nicht schlagen!" wimmerte er.

Damit brachte er Jonna endgültig aus dem Konzept. Einigermaßen fassungslos wiederholte sie ihre Frage

"Was ist mit dir passiert?"

"Bring mich nicht um!"

"Niemand will dich umbringen! Erkennst du mich denn nicht? Ich bin es, Jonna Harper!"

Sikkims Augen blickten immer noch ins Leere, aber dann, ganz plötzlich, änderte sich das.

"Jonna!" Sikkim starrte sie an. "Ja, sicher, du müßtest es können!" 

Jonna dachte, daß damit das Schlimmste überstanden war und daß es nun möglich sein würde, mit ihm zu sprechen. Sie ging neben ihm in die Hocke, legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter...

Aus dem Augenwinkel sah sie Tralman an der Tür auftauchen. Er kam näher, beugte sich herab und drückte einen Injektionsstift an Sikkims Hals.

Es zischte.

Sikkims Augen wurden groß, seine Pupillen weiteten sich. Er packte Jonna am Arm, so fest, daß er sie mit sich zog, als er in sich zusammensackte.

"Du mußt es verhindern!" flüsterte er - sie spürte seinen heißen Atem auf ihrem Gesicht, in seiner Lunge rasselte es. "Sie werden die ganze Stadt zerstören. Du mußt sie aufhalten! Du mußt dorthin gehen und ihnen..."

Und damit verstummte er, mitten im Wort.

Jonna richtete sich auf und sah Tralman an.

Der Observer lehnte an der Wand der Schleusenkammer und holte zitternd Luft - es klang wie ein Schluchzen.

"Wie können sie es wagen, ihn zu betäuben?" fragte die Protektorin mit mühsam unterdrückter Wut.

"Er braucht Ruhe!" erwiderte Tralman gereizt.

"Ein paar Sekunden hätte das schon noch warten können!" sagte Jonna scharf. "Er wollte mir etwas mitteilen! Warum haben Sie ihn nicht ausreden lassen?"

Tralman sah nicht viel besser aus als sein Klient. Er war grau im Gesicht, und die Haare hingen ihm wirr in die Stirn. Unterhalb der linken Schulter sickerte es naß und dunkelrot durch das ohnehin schon blutgetränkte Hemd: Die Stichwunde, die Sikkim seinem Observer beigebracht hatte, blutete immer noch.

"Er hätte Ihnen nichts sagen können", behauptete er schroff. "Sehen Sie denn nicht, was mit ihm los ist?"

"Ich sehe nur, daß er jetzt bewußtlos ist. Und das ist Ihr Werk!"

"Er ist nicht bei Verstand!" erwiderte Tralman abweisend. "Er kann Ihnen keine Auskünfte erteilen!"

"Falsch! Er wollte mit mir reden!"

"Ja, sicher, über irgendein Hirngespinst! Lassen Sie es gut sein, Harper. Nichts von dem, was Sikkim Ihnen in diesem Zustand sagen könnte, wäre für Sie von Wert. Er gehört in einen Saniscan!"

Wie auf ein Stichwort kam eine der Maschinen in die Schleuse gerollt, fuhr zwei Arme aus und holte den betäubten Sikkim zu sich an Bord.

"Geben Sie ihm die Anweisung, daß er Sikkims Blut auf Drogen untersuchen soll!" forderte Jonna.

Tralman musterte sie mit einem Blick, der der Protektorin das Blut ins Gesicht trieb.

"Sie haben zu viel Phantasie, meine Liebe!" sagte er verächtlich mit der ihm eigenen Arroganz. "Und jetzt entschuldigen Sie mich - ich muß mich um meinen Klienten kümmern!"

Ein weiterer Saniscan kurvte heran. Tralman stieg ein. Die beiden Maschinen rollten mit ihren Patienten davon.

Jonna sah ihnen nach - fassungslos angesichts dessen, was sie gerade erlebt hatte. Ihr Instinkt sagte ihr, daß Tralman selbstverständlich nicht nach Drogen in Sikkims Blut suchen lassen würde.

Sie betrachtete ihre Hände, ihre Kleidung, suchte nach verwertbaren Blutflecken, die von Sikkim stammten, fand aber natürlich nichts.

Ich war zu rücksichtsvoll! dachte sie bitter. Ich hätte ihm eins auf die Nase geben sollen!

Der Außendienstler, der Sikkim überwältigt hatte, stand immer noch in der Schleuse. Er war sehr jung, höchstens achtzehn. Er wirkte betreten und schien nicht recht zu wissen, was er tun sollte.

"Gehören Sie zu Tralman?" fragte Jonna.

Er nickte.

"Ich bin einer seiner Anwärter", erklärte er. "Er hatte mich zu sich bestellt. Ich kam gerade in die Praxis, als man ihn unter der Abschirmung hervorholte."

Jonna sagte sich, daß es keinen Sinn hatte, ihre Wut auf Tralman an diesem Jungen auszulassen.

"Wie heißen Sie?" fragte sie.

"Ken."

"Wollen Sie mir helfen, Ken?"

Er nickte.

"In dem Fach da drüben finden Sie ein paar Lappen und eine Flasche mit einem Reinigungsmittel", sagte Jonna. "Wischen Sie das Blut dort am Türrahmen weg" (Tralmans Blut, leider nicht das von Sikkim, sinnlos, es analysieren zu lassen) "und reinigen Sie die Dichtungen. Ich werde inzwischen die Sensoren wieder auf Vordermann bringen."

Gemeinsam machten sie sich daran, die Spuren des Zwischenfalls zu beseitigen. Sie brauchten dazu ungefähr eine halbe Stunde. Dann verließen sie die Schleuse, und Ken ging seiner Wege.

Als Jonna allein war, erkundigte sie sich nach Sikkims Befinden. Die Auskunft, die das System ihr erteilte, war kurz und sachlich:

"Der Protektor Sikkim ist tot."

Jonna war wie vor den Kopf geschlagen.

"Tot?" wiederholte sie. "Warum? Was ist passiert?"

"Er ist gestorben."

Punkt und aus: Das System war offenbar der Meinung, daß damit alles Wesentliche gesagt war.

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