Acht Wochen vergingen - acht volle, lange Wochen. Jonna wurde reizbar
und ungeduldig in dieser Zeit.
Dem Observer blieb das natürlich nicht verborgen. Er wußte
sehr genau, was er seiner Klientin antat, und offenbar hatte er auch ein
verdammt schlechtes Gewissen dabei, denn er rief sie nie zur Ordnung.
Wenn sie beim Putzen von Lichtsammlern und Luftfiltern wütend vor
sich hin murmelte, blieb er ungewohnt still, und er enthielt sich jeder
Bemerkung über den Geist, die Außenwelt und das Urnenfeld.
Er ließ Jonna ihre Arbeit tun und mischte sich möglichst selten
ein.
Und es gab sehr viel Arbeit in dieser Zeit. Jonna hatte nie zuvor so viele
Pannen innerhalb einer so kurzen Zeitspanne erlebt. Alle lagen sie im
Außenbereich, alle an sensiblen Stellen, an denen niemand für
sie einspringen konnte. Es war geradezu unheimlich - als hätte jemand
es darauf abgesehen, sie ununterbrochen in Trab zu halten. Mit Ach und
Krach fand sie gelegentlich ein bißchen Zeit zum Schlafen.
Wenn sie schlief, hatte sie Alpträume.
Sie sah Urnen voller Schätze, voller einzigartiger Informationen,
voller Bilder und Texte, voller seltsamer Leute, und all diese Leute winkten
ihr zu und forderten sie auf, zu ihnen zu kommen und an ihrem Wissen teilzuhaben.
Aber sobald sie die Urnen berührte, zerfielen sie samt ihren Insassen
zu Staub oder wurden zu einem grauen Nebel, lösten sich auf, flossen
in das Maul eines düsteren Molochs, der im Untergrund lauerte, wie
ein unheimlicher, mörderischer Fisch in trübem Wasser.
Jonna konnte in diesen Träumen ganz deutlich erkennen, daß
da wirklich etwas war. Es war nicht etwas,
das sie sich nur einbildete, sondern es existierte,
und es war feindselig, düster und lauernd. Es betraf nicht nur die
Urnen. Es war groß und gefährlich, eine Bedrohung für
die ganze Stadt. Es flößte ihr Angst ein. Aber sie konnte nicht
ergründen, was es war. Sie erwachte
jedesmal schweißgebadet, mit der vollen Erinnerung an den Traum
- es war grauenvoll. Allmählich hatte sie schon Angst davor, überhaupt
einzuschlafen.
Eines Tages rief Cheroux sie an und sagte:
"Die letzten Wochen waren hart. Tu mal was für dich. Entspanne
dich ein bißchen."
Er sagte nicht, wie sie sich entspannen sollte.
Jonna zog daraus den Schluß, daß er jeder Diskussion aus dem
Wege gehen wollte. Sie stellte keine Fragen, provozierte keine Anweisungen
- sie unterbrach die Verbindung, ehe er es sich anders überlegen
konnte, stieg in ihren Cykon und ließ sich schnurstracks den alten
Friedhof einblenden.
Niemand war ihr zuvorgekommen, nichts hatte sich verändert - der
Friedhof war noch genauso einsam und verlassen wie zuvor.
Er trug deutliche Spuren des Zerfalls - komisch,
das ist mir bei meinem ersten Besuch gar nicht aufgefallen! dachte
Jonna und wunderte sich darüber, wie sie das hatte übersehen
können. Hier und da zeigten sich sogar Lücken im Design, Löcher
in der energetischen Landschaft. Aber die Urnen an sich waren wohlverschlossen
und unversehrt.
Schön waren sie nicht: häßliche Kästen mit eckigen
Metalltüren, über denen knallbunte Neonschriften blinkten. Es
schien kein Personal mehr zu geben. Niemand kam, um Jonna nach ihren Wünschen
zu fragen. Kein Geist, keine Elfe, kein Bote und kein Diener ließen
sich blicken, nicht einmal ein Gevatter Tod mit dem üblichen dicken
Buch unter dem Arm. Außerdem war es totenstill. Kein Glockenklang
war zu hören, kein Gesang, kein Vogelgezwitscher, keine Sphärenklänge.
Es war der ungemütlichste Friedhof, den Jonna je betreten hatte.
"Na schön", sagte sie in diese gespenstische Stille hinein.
"Gib mir König Salomon!"
Das war eine der historischen Urnen, die das System geschaffen hatte,
um möglichst viele Bürger zu einem Besuch zu animieren - regelmäßige
Zugriffe waren wichtig für die Stabilität der Felder. Aus der
Verteilung der historischen Urnen hatte sich mit der Zeit eine Orientierungshilfe
ergeben, wichtig für alle, die nicht mit einer festen Zielangabe
an die Friedhofstore klopfen konnten.
"Auf diesem Feld gibt es keinen König Salomon", sagte das
System.
"Keinen König Salomon?" fragte Jonna verblüfft.
"So ist es."
"Aber einen König Salomon gibt es doch auf jedem Feld! Er ist
wichtig, das weißt du doch! Die Bürger wenden sich an ihn mit
Fragen, die sie anderen nicht zu stellen wagen. Er ist neutral und nicht
mit der Nachbarschaftshilfe verknüpft. Wir brauchen ihn - er ist
unentbehrlich! Den kannst du doch nicht einfach weglassen!"
"Hier gibt es ihn nicht."
"Dann eben Napoleon!"
"Es gibt auch keinen Napoleon."
"Sigmund Freud?" fragte Jonna hoffnungsvoll.
"Auch nicht."
"Wen hast du sonst noch zu bieten?"
"Wünschen Sie eine Einwohnerliste?"
"Nein, verdammt, ich will eine von den historischen Urnen!"
"Auf diesem Feld gibt es keine historischen Urnen."
Jonna glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu können.
"Gar keine?" fragte sie ungläubig.
"Keine historischen Urnen", wiederholte das System stur wie
ein Panzer.
Das Problem war neu für Jonna.
"Irgendwelche Speicher auf den Namen Harper?" fragte sie zögernd.
"Eine Selma Harper."
"Ist sie aus meiner Linie?" fragte Jonna, augenblicklich fasziniert
von der Möglichkeit, eine Vorfahrin kennenzulernen, deren Existenz
ihr bisher entgangen war.
"Nein", erwiderte das System. "Die Selma Harper auf diesem
Feld ist nicht mit Ihnen verwandt."
"Schade!" sagte Jonna gedehnt und wunderte sich über die
Formulierung, die das System gewählt hatte. Die
Selma Harper auf diesem Feld - das hörte sich ja fast so an,
als gäbe es durchaus Selma Harpers auf anderen
Feldern.
Sie wollte gerade danach fragen, da spürte sie eine leichte Erschütterung,
die wie ein kaum merkliches Frösteln durch die Struktur des Friedhofs
ging.
"Sie sollten diesen Sektor jetzt verlassen", sagte das System.
"Es gibt Unregelmäßigkeiten im energetischen Muster. Das
Feld kann jederzeit zusammenbrechen."
Jonna war durchaus imstande, sich selbst ein Bild von der aktuellen Situation
zu machen. Sie fand, daß die Lage bei weitem nicht so schlimm war,
wie das System behauptete.
"Ich möchte Selma Harper kennenlernen!" sagte sie. "Bring
mich zu ihr!"
Sie war halb und halb darauf gefaßt, daß das System sie kurzerhand
hinauskatapultieren würde. Statt dessen tauchte ein netter kleiner
Grabstein vor ihr auf, umgeben von bunten Blumen und grünen Blättern,
eine hübsche Abwechslung in dieser freudlosen Umgebung.
Jonna klopfte an - es gab kein Geräusch, kein Echo.
Dieser Friedhof pfeift wirklich auf dem letzten Loch! dachte sie
erschüttert.
"Darf ich eintreten?" fragte sie - höflich, respektvoll,
wie man eben zu einer so uralten Urneneinheit sprechen sollte.
Der Grabstein öffnete sich.
Dahinter lag das elektronische Abbild eines Zimmers, dessen Frontwand
aus einem riesigen Fenster bestand, durch das man auf eine weite, sonnige
Landschaft hinausblickte. Die anderen Wände waren bis zur Decke hinauf
mit Regalen bedeckt, in denen Bücher standen. Es mußten Tausende
sein, Bücher aller Art, alte und neue, große und kleine, dicke
und dünne, kunterbunt durcheinander. In der Mitte des Zimmers standen
ein Tisch und zwei Sessel, und in einem der Sessel saß Selma Harper
- eine kleine, rundliche Frau mittleren Alters. Sie blickte Jonna neugierig
entgegen.
<- eins
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