Marianne Sydow
 
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Marianne Sydow 2004-2007
 
Marianne Sydow
 
Ogawas Perlen
 
Science Fiction Roman
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Kapitel 2
Der alte Friedhof / 1
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Acht Wochen vergingen - acht volle, lange Wochen. Jonna wurde reizbar und ungeduldig in dieser Zeit.

Dem Observer blieb das natürlich nicht verborgen. Er wußte sehr genau, was er seiner Klientin antat, und offenbar hatte er auch ein verdammt schlechtes Gewissen dabei, denn er rief sie nie zur Ordnung. Wenn sie beim Putzen von Lichtsammlern und Luftfiltern wütend vor sich hin murmelte, blieb er ungewohnt still, und er enthielt sich jeder Bemerkung über den Geist, die Außenwelt und das Urnenfeld. Er ließ Jonna ihre Arbeit tun und mischte sich möglichst selten ein.

Und es gab sehr viel Arbeit in dieser Zeit. Jonna hatte nie zuvor so viele Pannen innerhalb einer so kurzen Zeitspanne erlebt. Alle lagen sie im Außenbereich, alle an sensiblen Stellen, an denen niemand für sie einspringen konnte. Es war geradezu unheimlich - als hätte jemand es darauf abgesehen, sie ununterbrochen in Trab zu halten. Mit Ach und Krach fand sie gelegentlich ein bißchen Zeit zum Schlafen.

Wenn sie schlief, hatte sie Alpträume. Sie sah Urnen voller Schätze, voller einzigartiger Informationen, voller Bilder und Texte, voller seltsamer Leute, und all diese Leute winkten ihr zu und forderten sie auf, zu ihnen zu kommen und an ihrem Wissen teilzuhaben. Aber sobald sie die Urnen berührte, zerfielen sie samt ihren Insassen zu Staub oder wurden zu einem grauen Nebel, lösten sich auf, flossen in das Maul eines düsteren Molochs, der im Untergrund lauerte, wie ein unheimlicher, mörderischer Fisch in trübem Wasser.

Jonna konnte in diesen Träumen ganz deutlich erkennen, daß da wirklich etwas war. Es war nicht etwas, das sie sich nur einbildete, sondern es existierte, und es war feindselig, düster und lauernd. Es betraf nicht nur die Urnen. Es war groß und gefährlich, eine Bedrohung für die ganze Stadt. Es flößte ihr Angst ein. Aber sie konnte nicht ergründen, was es war. Sie erwachte jedesmal schweißgebadet, mit der vollen Erinnerung an den Traum - es war grauenvoll. Allmählich hatte sie schon Angst davor, überhaupt einzuschlafen.

Eines Tages rief Cheroux sie an und sagte:

"Die letzten Wochen waren hart. Tu mal was für dich. Entspanne dich ein bißchen."

Er sagte nicht, wie sie sich entspannen sollte. Jonna zog daraus den Schluß, daß er jeder Diskussion aus dem Wege gehen wollte. Sie stellte keine Fragen, provozierte keine Anweisungen - sie unterbrach die Verbindung, ehe er es sich anders überlegen konnte, stieg in ihren Cykon und ließ sich schnurstracks den alten Friedhof einblenden.

Niemand war ihr zuvorgekommen, nichts hatte sich verändert - der Friedhof war noch genauso einsam und verlassen wie zuvor.

Er trug deutliche Spuren des Zerfalls - komisch, das ist mir bei meinem ersten Besuch gar nicht aufgefallen! dachte Jonna und wunderte sich darüber, wie sie das hatte übersehen können. Hier und da zeigten sich sogar Lücken im Design, Löcher in der energetischen Landschaft. Aber die Urnen an sich waren wohlverschlossen und unversehrt.

Schön waren sie nicht: häßliche Kästen mit eckigen Metalltüren, über denen knallbunte Neonschriften blinkten. Es schien kein Personal mehr zu geben. Niemand kam, um Jonna nach ihren Wünschen zu fragen. Kein Geist, keine Elfe, kein Bote und kein Diener ließen sich blicken, nicht einmal ein Gevatter Tod mit dem üblichen dicken Buch unter dem Arm. Außerdem war es totenstill. Kein Glockenklang war zu hören, kein Gesang, kein Vogelgezwitscher, keine Sphärenklänge.

Es war der ungemütlichste Friedhof, den Jonna je betreten hatte.

"Na schön", sagte sie in diese gespenstische Stille hinein. "Gib mir König Salomon!"

Das war eine der historischen Urnen, die das System geschaffen hatte, um möglichst viele Bürger zu einem Besuch zu animieren - regelmäßige Zugriffe waren wichtig für die Stabilität der Felder. Aus der Verteilung der historischen Urnen hatte sich mit der Zeit eine Orientierungshilfe ergeben, wichtig für alle, die nicht mit einer festen Zielangabe an die Friedhofstore klopfen konnten.

"Auf diesem Feld gibt es keinen König Salomon", sagte das System.

"Keinen König Salomon?" fragte Jonna verblüfft.

"So ist es."

"Aber einen König Salomon gibt es doch auf jedem Feld! Er ist wichtig, das weißt du doch! Die Bürger wenden sich an ihn mit Fragen, die sie anderen nicht zu stellen wagen. Er ist neutral und nicht mit der Nachbarschaftshilfe verknüpft. Wir brauchen ihn - er ist unentbehrlich! Den kannst du doch nicht einfach weglassen!"

"Hier gibt es ihn nicht."

"Dann eben Napoleon!"

"Es gibt auch keinen Napoleon."

"Sigmund Freud?" fragte Jonna hoffnungsvoll.

"Auch nicht."

"Wen hast du sonst noch zu bieten?"

"Wünschen Sie eine Einwohnerliste?"

"Nein, verdammt, ich will eine von den historischen Urnen!"

"Auf diesem Feld gibt es keine historischen Urnen."

Jonna glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu können.

"Gar keine?" fragte sie ungläubig.

"Keine historischen Urnen", wiederholte das System stur wie ein Panzer.

Das Problem war neu für Jonna.

"Irgendwelche Speicher auf den Namen Harper?" fragte sie zögernd.

"Eine Selma Harper."

"Ist sie aus meiner Linie?" fragte Jonna, augenblicklich fasziniert von der Möglichkeit, eine Vorfahrin kennenzulernen, deren Existenz ihr bisher entgangen war.

"Nein", erwiderte das System. "Die Selma Harper auf diesem Feld ist nicht mit Ihnen verwandt."

"Schade!" sagte Jonna gedehnt und wunderte sich über die Formulierung, die das System gewählt hatte. Die Selma Harper auf diesem Feld - das hörte sich ja fast so an, als gäbe es durchaus Selma Harpers auf anderen Feldern.

Sie wollte gerade danach fragen, da spürte sie eine leichte Erschütterung, die wie ein kaum merkliches Frösteln durch die Struktur des Friedhofs ging.

"Sie sollten diesen Sektor jetzt verlassen", sagte das System. "Es gibt Unregelmäßigkeiten im energetischen Muster. Das Feld kann jederzeit zusammenbrechen."

Jonna war durchaus imstande, sich selbst ein Bild von der aktuellen Situation zu machen. Sie fand, daß die Lage bei weitem nicht so schlimm war, wie das System behauptete.

"Ich möchte Selma Harper kennenlernen!" sagte sie. "Bring mich zu ihr!"

Sie war halb und halb darauf gefaßt, daß das System sie kurzerhand hinauskatapultieren würde. Statt dessen tauchte ein netter kleiner Grabstein vor ihr auf, umgeben von bunten Blumen und grünen Blättern, eine hübsche Abwechslung in dieser freudlosen Umgebung.

Jonna klopfte an - es gab kein Geräusch, kein Echo.

Dieser Friedhof pfeift wirklich auf dem letzten Loch!
dachte sie erschüttert.

"Darf ich eintreten?" fragte sie - höflich, respektvoll, wie man eben zu einer so uralten Urneneinheit sprechen sollte.

Der Grabstein öffnete sich.

Dahinter lag das elektronische Abbild eines Zimmers, dessen Frontwand aus einem riesigen Fenster bestand, durch das man auf eine weite, sonnige Landschaft hinausblickte. Die anderen Wände waren bis zur Decke hinauf mit Regalen bedeckt, in denen Bücher standen. Es mußten Tausende sein, Bücher aller Art, alte und neue, große und kleine, dicke und dünne, kunterbunt durcheinander. In der Mitte des Zimmers standen ein Tisch und zwei Sessel, und in einem der Sessel saß Selma Harper - eine kleine, rundliche Frau mittleren Alters. Sie blickte Jonna neugierig entgegen.


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